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13.03.2015
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Haftung und Aufsicht
EuGH: Verschmelzung durch Aufnahme – Übergang der ordnungs-widrigkeitsrechtlichen Haftung der übertragenden Gesellschaft

EuGH, Urteil vom 5.3.2015 – Rs. C343/13, Modelo Continente Hipermercados SA gegen Autoridade para as Condições de Trabalho – Centro Local do Lis (ACT)

Tenor

Art. 19 Abs. 1 der Dritten Richtlinie 78/855/EWG des Rates vom 9. Oktober 1978 gemäß Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages betreffend die Verschmelzung von Aktiengesellschaften in der durch die Richtlinie 2009/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass eine „Verschmelzung durch Aufnahme“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie bewirkt, dass auf die übernehmende Gesellschaft die Verpflichtung zur Zahlung einer Geldbuße übergeht, die nach der Verschmelzung mit einer endgültigen Entscheidung verhängt wird, aber arbeitsrechtliche Zuwiderhandlungen ahndet, die die übertragende Gesellschaft vor der Verschmelzung begangen hatte.

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 der Dritten Richtlinie 78/855/EWG des Rates vom 9. Oktober 1978 gemäß Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages betreffend die Verschmelzung von Aktiengesellschaften (ABl. L 295, S. 36) in der durch die Richtlinie 2009/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 (ABl. L 259, S. 14) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 78/855).

2          Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Modelo Continente Hipermercados SA (im Folgenden: MCH) und der Autoridade para as Condições de Trabalho – Centro Local do Lis (ACT) (Arbeitsaufsichtsbehörde – Bezirkszentrum von Lis) wegen deren Entscheidung, MCH eine Geldbuße für Zuwiderhandlungen gegen das portugiesische Arbeitsrecht aufzuerlegen, die die Good and Cheap – Comércio Retalhista SA (im Folgenden: Good and Cheap) vor ihrer Aufnahme durch MCH begangen hatte.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3          In den Erwägungsgründen 3 und 6 der Richtlinie 78/855 hieß es:

„Der Schutz der Interessen von Gesellschaftern und Dritten erfordert es, die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Verschmelzung von Aktiengesellschaften zu koordinieren; gleichzeitig erscheint es zweckmäßig, in die nationalen Rechte der Mitgliedstaaten die Institution der Verschmelzung einzuführen.

Die Gläubiger einschließlich der Inhaber von Schuldverschreibungen sowie die Inhaber anderer Rechte der sich verschmelzenden Gesellschaften müssen dagegen geschützt werden, dass sie durch die Verschmelzung Schaden erleiden.“

4          Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie lautete:

„Im Sinne dieser Richtlinie ist die Verschmelzung durch Aufnahme der Vorgang, durch den eine oder mehrere Gesellschaften ihr gesamtes Aktiv- und Passivvermögen im Wege der Auflösung ohne Abwicklung auf eine andere Gesellschaft übertragen, und zwar gegen Gewährung von Aktien der übernehmenden Gesellschaft an die Aktionäre der übertragenden Gesellschaft oder Gesellschaften und gegebenenfalls einer baren Zuzahlung, die den zehnten Teil des Nennbetrags oder, wenn ein Nennbetrag nicht vorhanden ist, des rechnerischen Wertes der gewährten Aktien nicht übersteigt.“

5          Art. 13 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie hatte folgenden Wortlaut:

„(1) Die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten müssen ein angemessenes Schutzsystem für die Interessen der Gläubiger der sich verschmelzenden Gesellschaften vorsehen, deren Forderungen vor der Bekanntmachung des Verschmelzungsplans entstanden und zum Zeitpunkt dieser Bekanntmachung noch nicht erloschen sind.

(2) Zu diesem Zweck sehen die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten zumindest vor, dass diese Gläubiger Anspruch auf angemessene Garantien haben, wenn die finanzielle Lage der sich verschmelzenden Gesellschaften einen solchen Schutz erforderlich macht und die Gläubiger nicht schon derartige Garantien haben.

Die Mitgliedstaaten legen die Modalitäten für den in Absatz 1 und Unterabsatz 1 des vorliegenden Absatzes vorgesehenen Schutz fest. Die Mitgliedstaaten gewährleisten in jedem Fall, dass die Gläubiger das Recht haben, bei der zuständigen Verwaltungsbehörde oder dem zuständigen Gericht angemessene Sicherheiten zu beantragen, wenn sie nachweisen können, dass die Befriedigung ihrer Forderungen durch die Verschmelzung gefährdet ist und sie von der Gesellschaft keine angemessenen Sicherheiten erhalten haben.“

6          Art. 19 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmte:

„Die Verschmelzung bewirkt ipso jure gleichzeitig Folgendes:

a) Sowohl zwischen der übertragenden Gesellschaft und der übernehmenden Gesellschaft als auch gegenüber Dritten geht das gesamte Aktiv- und Passivvermögen der übertragenden Gesellschaft auf die übernehmende Gesellschaft über;

b) die Aktionäre der übertragenden Gesellschaft werden Aktionäre der übernehmenden Gesellschaft;

c) die übertragende Gesellschaft erlischt.“

7          Die Richtlinie 78/855 wurde mit Wirkung vom 1. Juli 2011 durch die Richtlinie 2011/35/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Verschmelzung von Aktiengesellschaften (ABl. L 110, S. 1) aufgehoben und ersetzt. Diese Richtlinie sollte, wie sich aus ihrem ersten Erwägungsgrund ergibt, die Richtlinie 78/855, die mehrfach und erheblich geändert wurde, aus Gründen der Klarheit und Übersichtlichkeit kodifizieren. Art. 19 Abs. 1 der Richtlinie 2011/35 gibt Art. 19 Abs. 1 der Richtlinie 78/855 mit identischem Wortlaut wieder.

Portugiesisches Recht

8          Art. 112 des Código das Sociedades Comerciais (Gesetzbuch über Handelsgesellschaften, im Folgenden: CSC) sieht vor:

„Mit der Eintragung der Verschmelzung in das Handelsregister:

a) erlöschen die übernommenen Gesellschaften oder, im Fall der Gründung einer neuen Gesellschaft, alle miteinander verschmolzenen Gesellschaften, und ihre Rechte und Pflichten werden auf die übernehmende Gesellschaft oder die neue Gesellschaft übertragen;

b) werden die Gesellschafter der erloschenen Gesellschaften zu Gesellschaftern der übernehmenden Gesellschaft oder der neuen Gesellschaft.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

9          Am 15. Februar 2011 führte die ACT eine Kontrolle des Registers der Arbeitsstunden durch, die die Arbeitnehmer von Good and Cheap in den Monaten Dezember 2010 und Januar 2011 geleistet hatten. Sie stellte verschiedene Zuwiderhandlungen gegen das portugiesische Arbeitsrecht fest, die die Anzahl der von bestimmten Arbeitnehmern ohne Unterbrechung geleisteten Arbeitsstunden und die Ruhezeit zwischen den Arbeitszeiträumen betrafen.

10        Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt sich, dass MCH und Good and Cheap am 22. Februar 2011 bei der zuständigen Handelsregisterbehörde einen Verschmelzungsplan anmeldeten, der auf der Website für Bekanntmachungen des Justizministeriums veröffentlicht wurde.

11        Am 7. März 2011 erstellte die ACT gegen Good and Cheap zwei Protokolle über die Zuwiderhandlungen. Diese Protokolle wurden aber erst am 4. April 2011 zugestellt.

12        Am 31. März 2011 wurde die Verschmelzung durch Aufnahme des Vermögens der Good and Cheap in MCH in das Handelsregister eingetragen, womit Good and Cheap infolge ihrer Aufnahme durch MCH aufgelöst wurde.

13        Mit Entscheidung vom 24. September 2012 bestätigte die ACT die erwähnten Protokolle und verhängte für alle festgestellten Zuwiderhandlungen Geldbußen gegen MCH.

14        In ihrer Klage gegen diese Entscheidung vor dem Tribunal do Trabalho de Leiria (Arbeitsgericht Leiria, Portugal) warf MCH die Frage auf, ob Art. 112 CSC in seiner Auslegung durch die ACT mit Art. 19 der Richtlinie 2011/35 vereinbar ist. In diesem Zusammenhang erscheint dem vorlegenden Gericht klärungsbedürftig, ob bei einer Verschmelzung durch Aufnahme der Übergang des gesamten Aktiv- und Passivvermögens der übertragenden Gesellschaft auf die übernehmende Gesellschaft, wie er in Abs. 1 Buchst. a dieses Artikels vorgesehen ist, auch den Übergang der Haftung für Geldbußen wegen Ordnungswidrigkeiten, die die übertragende Gesellschaft vor der Verschmelzung begangen hatte, auf die übernehmende Gesellschaft einschließen kann.

15        Unter diesen Umständen hat das Tribunal do Trabalho de Leiria beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Impliziert die Verschmelzung von Gesellschaften im Licht des Unionsrechts und insbesondere von Art. 19 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/35 die Regelung, dass die ordnungswidrigkeitsrechtliche Haftung wegen Handlungen, die die übertragende Gesellschaft vor der Eintragung der Verschmelzung vorgenommen hat, auf die übernehmende Gesellschaft übertragen wird?

2. Kann eine ordnungswidrigkeitsrechtliche Sanktion für die Zwecke der Anwendung der Richtlinie 2011/35 als Forderung eines Dritten (in diesem Fall des Staates wegen Verstoßes gegen ordnungswidrigkeitsrechtliche Vorschriften) angesehen werden, so dass die übernehmende Gesellschaft Schuldnerin der geltend gemachten Forderung aufgrund einer ordnungswidrigkeitsrechtlichen Sanktion (Geldbuße), deren Gläubiger der Staat ist, wird?

3. Läuft das Verständnis, dass Art. 112 CSC nicht die Erledigung des Verfahrens wegen einer vor der Verschmelzung begangenen Ordnungswidrigkeit oder die Hinfälligkeit der verhängten oder zu verhängenden Geldbuße impliziert, nicht der Richtlinie 2011/35, die die Wirkungen der Verschmelzung von Gesellschaften festlegt, zuwider, und wird dadurch nicht eine weite Auslegung der Bestimmung vorgenommen, die den Grundsätzen der Gemeinschaftsregelung, insbesondere Art. 19 der Richtlinie 2011/35, zuwiderläuft?

4. Verstößt dieses Verständnis nicht gegen den Grundsatz, dass es keine Ordnungswidrigkeit ohne (abgemilderte) verschuldensunabhängige oder verschuldensabhängige Haftung der übernehmenden Gesellschaft geben kann?

Zu den Vorlagefragen

Zur Zulässigkeit

16        In ihren schriftlichen Erklärungen äußern die deutsche und die österreichische Regierung Zweifel an der Zulässigkeit verschiedener der vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen. Die deutsche Regierung ist der Auffassung, dass die dritte und die vierte Frage die Auslegung des nationalen Rechts beträfen. Die österreichische Regierung trägt vor, dass die zweite Frage eine Situation betreffe, in der die Geldbuße im Gegensatz zum Sachverhalt des Ausgangsverfahrens bereits vor der Verschmelzung verhängt worden sei, und daher hypothetischen Charakter habe. Außerdem werde die in der vierten Frage angesprochene verwaltungsstrafrechtliche Haftung nicht durch die Richtlinie 2011/35 geregelt und weise daher keine Verbindung zum Recht der Europäischen Union auf, wie sie von Art. 51 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gefordert werde.

17        Insoweit ist zunächst festzustellen, dass dem vom vorlegenden Gericht unterbreiteten Sachverhalt zwar tatsächlich zu entnehmen ist, dass die Geldbußen mit einer Entscheidung verhängt wurden, die erst nach der Aufnahme von Good and Cheap durch MCH erging. Jedoch ergibt aus dem Wortlaut der zweiten Frage nicht, dass sie einen solchen Fall nicht erfasste. Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese Frage bloß hypothetischer Art ist.

18        Weiter begehrt das vorlegende Gericht mit seiner dritten Frage offensichtlich keine Auslegung des nationalen Rechts, sondern eine Auslegung der Richtlinie 2011/35 und insbesondere ihres Art. 19, um namentlich zu klären, ob die von der ACT vorgenommene Auslegung des Art. 112 CSC dem Unionsrecht zuwiderläuft.

19        Die vierte Frage schließlich betrifft, wie der Generalanwalt in Nr. 34 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Auslegung von Grundsätzen des portugiesischen Rechts und ermangelt daher jeder Bezugnahme auf das Unionsrecht. Nach ständiger Rechtsprechung beruht das Verfahren gemäß Art. 267 AEUV jedoch auf einer klaren Trennung der Aufgaben zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof, der nur befugt ist, sich zur Auslegung oder zur Gültigkeit von Rechtsakten der Union im Sinne dieses Artikels zu äußern. In diesem Rahmen kann der Gerichtshof weder über die Auslegung nationaler Rechtsvorschriften befinden noch darüber entscheiden, ob diese vom nationalen Gericht zutreffend ausgelegt worden sind (vgl. Urteil Texdata Software, C418/11, EU:C:2013:588, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

20        Die Fragen des vorlegenden Gerichts sind daher mit Ausnahme der vierten Frage zulässig.

Zur Beantwortung der Vorlagefragen

21        Vorab ist festzustellen, dass die Richtlinie 2011/35, deren Auslegung Gegenstand der ersten drei Fragen ist, zu dem im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitpunkt noch nicht in Kraft war. Daher sind diese Fragen nur im Hinblick auf die Bestimmungen der Richtlinie 78/855 zu prüfen.

22        Daher ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seinen ersten drei Fragen, die zusammen zu prüfen sind, wissen möchte, ob Art. 19 Abs. 1 der Richtlinie 78/855 dahin auszulegen ist, dass eine „Verschmelzung durch Aufnahme“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie bewirkt, dass auf die übernehmende Gesellschaft die Verpflichtung zur Zahlung einer Geldbuße übergeht, die nach der Verschmelzung mit einer endgültigen Entscheidung verhängt wird, aber arbeitsrechtliche Zuwiderhandlungen ahndet, die die übertragende Gesellschaft vor der Verschmelzung begangen hatte.

23        Gemäß Art. 19 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 78/855 bewirkt eine Verschmelzung durch Aufnahme ipso iure den Übergang des gesamten Aktiv- und Passivvermögens der übertragenden Gesellschaft auf die übernehmende Gesellschaft.

24        Zur Beantwortung der Fragen des vorlegenden Gerichts ist daher zu prüfen, ob die ordnungswidrigkeitsrechtliche Haftung einer Gesellschaft, die insbesondere die Verpflichtung umfasst, eine nach der Verschmelzung durch Aufnahme dieser Gesellschaft verhängte Geldbuße wegen vor dieser Verschmelzung begangener Zuwiderhandlungen zu zahlen, als Teil des Passivvermögens dieser Gesellschaft im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist.

25        Unter den in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union bezeichneten Beteiligten, die sich zu diesem Thema geäußert haben, ist unstreitig, dass eine mit endgültiger Entscheidung vor der Verschmelzung der beiden Gesellschaften verhängte, aber noch nicht beglichene Geldbuße einen Teil des Passivvermögens der übertragenden Gesellschaft bildet, da der Betrag einer solchen Geldbuße als Schuld dieser Gesellschaft gegenüber dem betreffenden Mitgliedstaat anzusehen sei. Dagegen sind hinsichtlich der dem Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Situation, in der eine Geldbuße erst nach der Verschmelzung der fraglichen Gesellschaften festgesetzt wurde, nur die portugiesische und die ungarische Regierung sowie die Europäische Kommission der Ansicht, dass die Verpflichtung zur Zahlung dieser Geldbuße zum Passivvermögen der übertragenden Gesellschaft gehört, während MCH und die deutsche Regierung die gegenteilige Ansicht vertreten.

26        In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der in Art. 19 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 78/855 verwendete Begriff „Aktiv- und Passivvermögen“ in dieser Richtlinie nicht definiert ist. Diese Bestimmung enthält hinsichtlich dieser Definition auch keine Verweisung auf das Recht der Mitgliedstaaten.

27        Nach ständiger Rechtsprechung folgt jedoch aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes, dass die Begriffe einer unionsrechtlichen Bestimmung, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen, die unter Berücksichtigung des Kontexts der Bestimmung und des mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss (vgl. u. a. Urteile Fish Legal und Shirley, C279/12, EU:C:2013:853, Rn. 42, sowie Deckmyn und Vrijheidsfonds, C201/13, EU:C:2014:2132, Rn. 14).

28        Was den Kontext betrifft, in den sich der Begriff des Passivvermögens einfügt, bestimmt Art. 19 Abs. 1 der Richtlinie 78/855 nicht nur, dass eine Verschmelzung durch Aufnahme ipso iure und somit automatisch den Übergang des gesamten Aktiv- und Passivvermögens der übertragenden Gesellschaft auf die übernehmende Gesellschaft bewirkt, sondern in seinem Buchst. c auch, dass die übertragende Gesellschaft erlischt. Daraus folgt, dass ohne den Übergang der ordnungswidrigkeitsrechtlichen Haftung auf die übernehmende Gesellschaft als Teil des Passivvermögens der übertragenden Gesellschaft diese Haftung erlöschen würde.

29        Wie der Generalanwalt in Nr. 61 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, widerspräche ein solches Erlöschen dem Wesen der Verschmelzung durch Aufnahme, wie sie in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 78/855 definiert ist, da nach dieser Bestimmung eine solche Verschmelzung in dem Übergang des gesamten Vermögens der übertragenden Gesellschaft auf die übernehmende Gesellschaft im Wege der Auflösung ohne Abwicklung besteht.

30        Die vorstehende Auslegung des Begriffs des Passivvermögens wird durch eine Prüfung der Zielsetzung der Richtlinie 78/855 bestätigt. Insoweit ergibt sich aus dem dritten Erwägungsgrund der Richtlinie, dass die Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Verschmelzung von Aktiengesellschaften durch die Einführung der Institution der Verschmelzung in die nationalen Rechte der Mitgliedstaaten insbesondere den Schutz der Interessen von Gesellschaftern und Dritten bei einer Verschmelzung durch Aufnahme bezweckt.

31        Der Begriff des „Dritten“ ist jedoch weiter gefasst als der im sechsten Erwägungsgrund dieser Richtlinie verwendete Begriff der „Gläubiger einschließlich der Inhaber von Schuldverschreibungen sowie [der] Inhaber anderer Rechte der sich verschmelzenden Gesellschaften“, da diese Gläubiger und Inhaber von Schuldverschreibungen speziellen, insbesondere in den Art. 13 bis 15 der Richtlinie 78/855 vorgesehenen Schutzmaßnahmen unterliegen.

32        Es ist deshalb anzunehmen, dass zu den Dritten, deren Interessen diese Richtlinie schützen soll, auch Rechtssubjekte gehören, die zum Zeitpunkt der Verschmelzung noch nicht als Gläubiger oder Inhaber von Schuldverschreibungen einzustufen waren, aber nach der Verschmelzung als solche aufgrund von Sachverhalten eingestuft werden können, die bereits vor der Verschmelzung entstanden sind, wie die Begehung arbeitsrechtlicher Zuwiderhandlungen, die erst nach der Verschmelzung durch eine Entscheidung festgestellt worden sind. Ginge die ordnungswidrigkeitsrechtliche Haftung der übertragenden Gesellschaft für eine Geldbuße wegen solcher Zuwiderhandlungen nicht auf die übernehmende Gesellschaft über, so wären die Interessen des Mitgliedstaats, dessen zuständige Behörden diese Geldbuße verhängt haben, nicht geschützt.

33        In diesem Zusammenhang ist in Übereinstimmung mit der portugiesischen und der ungarischen Regierung sowie der Kommission darauf hinzuweisen, dass dann, wenn der Übergang einer solchen Haftung ausgeschlossen wäre, eine Verschmelzung für eine Gesellschaft ein Mittel darstellte, den Folgen von ihr begangener Zuwiderhandlungen zum Nachteil des betreffenden Mitgliedstaats oder etwaiger anderer Beteiligter zu entgehen.

34        Diese Schlussfolgerung wird nicht durch das Argument von MCH entkräftet, dass der Übergang der ordnungswidrigkeitsrechtlichen Haftung einer übertragenden Gesellschaft im Rahmen einer Verschmelzung den Interessen der Gläubiger und der Aktionäre der übernehmenden Gesellschaft widerspräche, da Letztere nicht in der Lage seien, die wirtschaftlichen und vermögensrechtlichen Folgen dieser Verschmelzung zu beurteilen. Denn zum einen müssen diese Gläubiger gemäß Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 78/855 Anspruch auf angemessene Garantien haben, wenn die finanzielle Lage der sich verschmelzenden Gesellschaften einen solchen Schutz erforderlich macht, indem sie gegebenenfalls bei der zuständigen Verwaltungsbehörde oder dem zuständigen Gericht die Gewährung solcher Garantien erwirken. Zum anderen können die Aktionäre der übernehmenden Gesellschaft, wie der Generalanwalt in Nr. 61 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, insbesondere durch die Aufnahme einer Klausel über die Offenlegung und Garantien in die Verschmelzungsvereinbarung geschützt werden. Außerdem hindert die übernehmende Gesellschaft nichts daran, vor der Verschmelzung eine eingehende Prüfung der wirtschaftlichen und rechtlichen Situation der aufzunehmenden Gesellschaft durchführen zu lassen, um zusätzlich zu den Unterlagen und Informationen, deren Verfügbarkeit die geltenden Rechtsvorschriften vorschreiben, einen umfassenderen Einblick in die Verpflichtungen dieser Gesellschaft zu erlangen.

35        Daher ist auf die erste bis dritte Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 der Richtlinie 78/855 dahin auszulegen ist, dass eine „Verschmelzung durch Aufnahme“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie bewirkt, dass auf die übernehmende Gesellschaft die Verpflichtung zur Zahlung einer Geldbuße übergeht, die nach der Verschmelzung mit einer endgültigen Entscheidung verhängt wird, aber arbeitsrechtliche Zuwiderhandlungen ahndet, die die übertragende Gesellschaft vor der Verschmelzung begangen hatte.

Kosten

36        Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

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