Editorial – Sonderheft “Schweizerisches Aktienrecht 4.0”
Liebe Leserinnen und Leser der ZVglRWiss,
das Aktienrecht war in der föderalistischen Schweiz des 19. Jahrhunderts noch gliedstaatlich (“kantonal”) geregelt. Im Jahr 1883 trat die erste aktienrechtliche Ordnung auf Bundesebene in Kraft. In der Folge kam es jeweils im Abstand von mehreren Jahrzehnten zu “großen” Revisionen: 1936 sowie 1993 – und jetzt 2023, sozusagen als “Aktienrecht 4.0”. Aktienrechtliche “Kleinrevisionen”, beispielsweise zum Mindestnennwert von Aktien, fanden in der Schweiz immer wieder statt, gerade auch in jüngerer Vergangenheit.
Die jüngste “große” Aktienrechtsrevision trat in der Zwischenzeit in Kraft, wenn auch gestaffelt. Nunmehr scheint der richtige Zeitpunkt zu sein, um dem Publikum der ZVglRWiss das neue schweizerische Aktienrecht im Überblick darzulegen, geradezu als “Länderbericht”. Mit einem großen Interesse der internationalen Leserschaft darf durchaus gerechnet werden.
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Es stellt einen Glücksfall dar, dass sich sieben namhafte Autorinnen und Autoren von mehreren Universitäten für dieses Sonderheft “Schweizerisches Aktienrecht 4.0” wissenschaftlich versammelt haben, jedermann vor ihrem bzw. seinem akademischen Hintergrund und gleichermaßen mit praktischen Erfahrungen zum Aktienrecht. Die Autorenschaft gehört – mit Ausnahme des Unterzeichners – zur jüngeren Generation der Schweizer Aktienrechtler:
– Prof. Thomas Jutzi, Universität Bern, beschäftigt sich mit der “Digitalisierung des Aktienrechts”, die als Ausdruck einer internationalen (und ebenso schweizerischen) Entwicklung nicht zuletzt auf “Corona” zurückzuführen ist; die intensivsten Spuren hinterlässt die Digitalisierung im Zusammenhang mit den Generalversammlungen (“Hauptversammlungen”), bei denen “elektronische Mittel” intensiv zum Einsatz gelangen können.
– Prof. Karin Müller, Universität Luzern, geht ein auf den “Rechtsschutz bei technischen Problemen in der hybriden und virtuellen Generalversammlung”; es scheint schon heute absehbar, dass eine Folge der Digitalisierung deren Versagen oder – mit anderen Worten – “technische Probleme” sein könnten, die allenfalls sogar zu einer Wiederholung der Versammlungen sowie der Beschlussfassungen führen können (Art. 701f Abs. 1 OR).
– Prof. Harald Bärtschi, Universität Zürich, stellt ein neuartiges Thema im schweizerischen Aktienrecht dar, nämlich die “Verantwortlichkeit für Nachhaltigkeit”; im Rahmen der jüngeren Revisionsbemühungen gelang
– Dr. Pascal Zysset, Universität Bern, setzt sich mit einem aktienrechtlichen Kernthema auseinander, und zwar mit dem “Kapital der Aktiengesellschaft”; die Bedeutung des Gesellschaftskapitals liegt im Schutz der Gesellschaft, der Gesellschafter sowie der Gesellschaftsgläubiger, wobei unter anderem ein neuer “Swiss Finish” zu diskutieren ist: das Kapitalband (Art. 653s ff. OR), zur Flexibilisierung der Eigenkapitalfinanzierung.
– Prof. Nina Reiser, Universität St. Gallen, widmet sich dem Thema der “Interessenkonflikte im Verwaltungsrat” (also: im Aufsichtsrat); während die Interessenkonflikte in Unternehmensexekutiven schon bis anhin thematisiert wurden, in erster Linie im Zusammenhang mit pflichtwidrigem Verhalten von Verwaltungsräten (Art. 717 OR), liegt nunmehr mit dem “Aktienrecht 4.0” erstmals eine ausdrückliche Regelung vor: Art. 717a OR.
– Prof. Peter Jung, Universität Basel, geht geradezu auf einen aktienrechtlichen “Klassiker” ein, der in der Praxis anlässlich vieler Generalversammlungen immer wieder zur Aufführung gelangt: das “Auskunfts- und Einsichtsrecht des Aktionärs”; es gibt kaum einen anderen Bereich des Aktienrechts, der ähnlich stark bei der Revision verändert wurde, teils zugunsten und teils zu Lasten der anspruchsberechtigten Aktionäre.
– Prof. Peter V. Kunz, Universität Bern, legt den Fokus auf die “Internationalisierung im Aktienrecht”, das indes nach wie vor national reguliert wird; einige Elemente werden neu im “Aktienrecht 4.0” aufgenommen, beispielsweise die Denomination des Aktienkapitals in gewissen Fremdwährungen (konkret: Britischer Pfund, Euro, US-Dollar und Japanischer Yen) sowie die Möglichkeit, Generalversammlungen auch im Ausland durchzuführen (Art. 701b OR).
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Der Unterzeichner hat schon mehrfach festgehalten, dass das schweizerische “Aktienrecht 4.0” drei Megatrends spiegelt, die ebenfalls auf internationaler Ebene erkennbar sind: Digitialisierung, Internationalisierung sowie “Nachhaltigkeit”; dadurch wird die bisherige Funktion des schweizerischen Aktienrechts als Organisationsrecht nicht unerheblich relativiert.
Es wurde (rechtspolitisch) immer wieder kritisiert, dass mit der Aktienrechtsrevision die Gesellschaftspolitik ins Gesellschaftsrecht einfließe (Beispiel: “Geschlechter”-Vertretungen); tatsächlich kann eine gewisse Ideologisierung der “großen” Aktienrechtsrevision kaum ernsthaft bestritten werden. Doch die Debatten de lege ferenda sind abgeschlossen, d. h. es geht künftig nur, aber immerhin, um aktienrechtliche Diskussionen de lege lata.
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Vor drei Jahren “überholte” die Rechtsform der Gesellschaft mit beschränkter Haftung in der Schweiz quantitativ die Aktiengesellschaft, die seit dem 19. Jahrhundert ihren Vorsprung verteidigt hatte. Das GmbH-Recht verweist indes in weiten Teilen schlicht auf das Aktienrecht, und die Publikumsgesellschaften sind zwingend als AG organisiert; das Aktienrechts stellt somit nach wie vor den wichtigsten Teil des schweizerischen Gesellschaftsrechts dar.
Ich bedanke mich bei meinen Kolleginnen und Kollegen für ihre wertvolle Mitarbeit beim Sonderheft “Aktienrecht 4.0”. Dank schulde ich außerdem drei wissenschaftlichen Assistenten und Doktoranden an meinem Lehrstuhl am Institut für nationales und internationales Wirtschaftsrecht (IWR) der Universität Bern: MLaw Riccardo Sturzo, Rechtsanwalt Lars Schöni sowie MLaw Ludwig Stampfli: die künftige Generation von Schweizer Aktienrechtlern.
Die Autorinnen und Autoren aus der Schweiz wünschen Ihnen eine spannende Lektüre ihrer Beiträge. Über allfällige Rückmeldungen von Ihrer Seite würden wir uns alle freuen!
Peter V. Kunz