Lebensmittelsicherheit – eine Fata Morgana?*
Überlegungen und Vorschläge zur Wiederherstellung von Vertrauen
Dr. Michael Blass, Wien
Folgt man den lebensmittelrechtlichen und – politischen Diskussionen, in denen sich gegenwärtig BSE, MKS, Antibiotika, Dioxin, Gentechnik und weitere reale oder virtuelle Krisen thematisch überlagern und vermengen, kann man den Eindruck gewinnen, gesetzgeberische Maßnahmen würden als zwecklos oder – noch ernüchternder – als kontraproduktiv angesehen. Lebensmittelsicherheit gerät zur Fata Morgana, die umso weiter entweicht, je mehr man sich ihr zu nähern trachtet.
Werden gerade BSE und Lebensmittelsicherheit als unvereinbare Gegensätze erlebt, sind in solcher Polarität freilich auch Gemeinsamkeiten angelegt: Beide Male handelt es sich um komplexe Sachverhalte, die in ihrer Wahrnehmung und Auswirkung Massenphänomene sind. In dieser vielschichtigen Gemengelage ist das Lebensmittelrecht nur ein Faktor und als solcher eine wichtige, keineswegs aber die allein ausschlaggebende Einflussgröße. Die Politik, die Architektur der Märkte, Eigengesetzlichkeiten der Medien und – besonders von Letzteren abgeleitet – die öffentliche Perzeption von Lebensmittelsicherheit und der scheinbar nicht enden wollenden Krisen sind einige andere Parameter, die eine Rolle spielen.
Zu dieser Komplexität steht die Behandlung des Themas – der deutsche Lebensmittelrechtstag und die ZLR bilden hier Ausnahmen – in einem bemerkenswerten Gegensatz. Erklärungen sind umso populärer, je einfacher (besser: je vereinfachender) sie ausfallen. Denn simple Erklärungen schaffen die bequemste Möglichkeit, eine Debatte rasch und mit dem Ergebnis abzuschließen, das die Masse herbeisehnt: ein Schuldiger wird ausgemacht und unter ein (mehr oder minder gerechtes) Verdikt gestellt. Also Ende gut, alles gut. Oder doch nicht?
Die Antwort ist ein Nein. Vorverurteilungen sind in ihrer Pauschalität, Beliebigkeit und Austauschbarkeit ebenso schädlich wie ihr Gegenteil – eine durch Fakten nicht belegte, antizipierte Individual- oder Generalabsolution. Andererseits: die Unschuldsvermutung existiert nicht nur als Rechtsgrundsatz, sondern auch als gesellschaftlicher und politischer Mindeststandard. Von verfrühten Schuldzuwei¬
Niemand stellt in Frage, daß man bei unvoreingenommener Analyse der Stärken und Schwächen der Lebensmittelkette Verbesserungspotentiale entdecken wird. Ebenso wird freilich ins Bewußtsein rücken, was in den zurückliegenden Jahren und Jahrzehnten erreicht worden ist. Auch wenn die Claque schweigt: BSE hin, Dioxin heres hat niemals ein umfassenderes Angebot an sicheren, ernährungsphysiologisch hochwertigen und wohlschmeckenden Lebensmitteln gegeben, mit denen die Märkte zu Grenzkosten (und teilweise noch billiger) bedient werden. Dazu haben u.a. die moderne Lebensmitteltechnologie, die Ernährungslehre, die Werkzeuge des Prozeß- und Qualitätsmanagements, die Innovationskraft der Wirtschaft und nicht zuletzt das Lebensmittelrecht entscheidende Beiträge geleistet. Diversen Unkenrufen zum Trotz sind im direkten Vergleich der Causen Dioxin und BSE auch im behördlichen und betrieblichen Krisenmanagement Fortschritte zu konstatieren.
Das alles hilft in der gegenwärtigen Akutphase freilich nicht und darf auch keinesfalls als Ruhekissen herhalten. Dennoch sind Änderungen irreversibel eingeleitet und werden in naher Zukunft durch die EG-Rechtssetzung noch verstärkt werden (Stichwort General Food Law mit Verantwortungsregeln, Risikoanalyse und Vorsorgeprinzip, Verfolgbarkeit von Betriebsmitteln, Rohstoffen, Zutaten und Fertigprodukten entlang der gesamten Erzeugungs- und Distributionskette). Das daraus entstehende neue Bewußtsein wird sich auf die Wahrnehmung von Lebensmittelsicherheit und eines Tages vielleicht sogar auf die gesellschaftliche Wertschätzung der Anstrengungen auswirken, die um die Lebensmittelsicherheit unternommen werden. Bis dahin wird jedoch das Paradoxon weiterbestehen, daß sich die öffentliche Meinung von Fakten kaum beeindrucken läßt, aber dennoch sehr grundsätzliche Fragen stellt.
Ein Beispiel gibt die Spectrum-Beilage der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“ vom 3. März 2001. Auf dem Trittbrett des von Hollywoods Hannibal Lector neu aufgekochten Anthropophagie-Grusels wird dort das bei Campus erschienene Buch „Fleisch – Ursprung und Wandel einer Lust“ der Kulturwissenschafterin Nan Mettinger zusammengefaßt:
„Was einst so kostbar war, daß wir diesen proteinreichen Stoff den Göttern opferten, geriet in einer „Säkularisierung des Fleisches“ zu einem industriell angefertigten, energetisch ungemein aufwendigen Massenprodukt. Glückliche Viecher auf grüner Wiese mußten Fleischmaschinen in Käfigen weichen, die man mit Hormonen aufpumpt, mit Antibiotika vollstopft und mit tiermehlhaltigem Futter mästet. Wir
Aber die Rache explodiert uns ins Gesicht: Wovor Anthroposophie-Begründer Rudolf Steiner oder Nietzsche oder Julien Green warnten – würden Kühe Fleisch fressen, würden sie wahnsinnig werden – ist eingetreten. Der BSE-Rinderwahn kann von der Politik nicht mehr wegdisputiert werden.
Wir Bürger der Postmoderne glaubten an den Sieg über das Tier und den Hunger. Plötzlich brüllt uns eine Bestie, das erkrankte Rindvieh, la vache folle, zurück. Und wir erzittern wie in prähistorischen Zeiten, als wir vor wilden Tieren noch Angst hatten. Früher, resümiert Nan Mettinger, überkam uns Menschen der Tod mangels Nahrung; wir starben oft an Hunger; jetzt kriegen wir, wenn wir nicht aufpassen, den Tod durch Nahrung, weil wir die Tiere zu Kannibalen gemacht haben. Heiliger Franz von Assisi, erbarme dich unser!“
Wenn Konsens darüber besteht, daß die Diskussion über Lebensmittelsicherheit wie jene über BSE viele Ebenen aufweist, so ist ethische Dimension fundamental bedeutsam. Mit ihr hat sich der deutsche Lebensmittelrechtstag im Jahr 1999 profund auseinandergesetzt. Soll der Komplexität des Themas Rechnung getragen werden und sollen in Zukunft schlüssige Antworten auf sehr drängende Fragen gegeben werden, wird die ethische Dimension auch dafür eine Schlüsselrolle spielen. Es sind Fakten, daß an die Erzeuger von Lebensmitteln ein anderer ethischer Maßstab gelegt wird als z.B. an die Produktion von Autozubehör und daß bei Lebensmitteln eine spezifische gegen Null tendierende Risikoakzeptanzbereitschaft besteht.
Auf das Gesagte aufbauend einige – vorläufige – Folgerungen:
1. Mögen Lebensmittel auch „low involvement“-Produkte sein, wird doch zunehmend evident, daß für Informationen über die einzelnen Stationen der Lebensmittelkette, insbesondere über Herkunft, Produktionsweisen und Herstellungsbedingungen der Waren, ein Markt entsteht. Konsumenten und mehr noch ihre institutionalisierten Vertreter bis hin zur politischen Klasse stellen diese Fragen an die Teilnehmer der Lebensmittelkette und sie werden dabei immer nachdrücklicher.
Wie sieht aber der Markt aus, auf dem sich dieses Geschehen vollzieht? Eine weitgehend durch Marktorganisationen reglementierte Landwirtschaft, die in unseren europäischen Gesellschaften seit alters her auch für Aufgaben zuständig ist, die deutlich über die Bereitstellung von Rohstoffen für die Lebensmittelproduktion hinausgehen und die daher nicht nachfrageorientiert produzieren kann, trifft auf eine im vollen Verdrängungswettbewerb stehende Lebensmittelindustrie. Diese wiederum ist einem auf gesättigten Märkten um Zehntelprozente an Anteilen kämpfenden
2. Ein Irrweg wäre es, den naiven Ruf zur Rückkehr zu vorindustriellen Produktionsbedingungen als Imperativ zu verstehen. „Bio“ oder der Einkauf am Bauernhof mögen auf Teilmärkten satter Gesellschaften Lösungsansätze beinhalten, die man auch unterstützen sollte. Die Patentlösung für die Lebensmittelproduktion des 21. Jahrhunderts sind sie nicht. (Eine Einschränkung dieser These könnte erforderlich werden, wenn man wagte, das Dogma der Inkompatibilität von ökologischer Produktion mit einem „unerschrocken – vorsichtigen“ Einsatz der Gentechnik in Frage zu stellen).
3. Lebensmittelsicherheit ist ein Anspruch von hoher Komplexität. Die Erfüllung dieses Anspruches für die Konsumenten glaubhaft erlebbar zu machen, erfordert ein Wertegerüst. Dieses muss auf eine Tragkraft ausgelegt werden, die es ihm ermöglicht, notwendige Einzelmaßnahmen zur Gewährleistung der Lebensmittelsicherheit auf dem höchsten praktisch machbaren und wirtschaftlich verkraftbaren Niveau zu gewährleisten. Um welche Werte es sich dabei handelt, wurde beim Lebensmittelrechtstag 1999 redlich und mit Engagement diskutiert.
4. Das angesprochene Wertegerüst – und nicht Einzelmaßnahmen, seien sie auch noch so schlüssig – wird es ermöglichen, erschüttertes, oft sogar zerstörtes Verbrauchervertrauen wieder aufzubauen. Wem grundsätzlich ethisches Handeln zugeschrieben wird, dem werden auch laufend notwendige technische Nachjustierungen und Verbesserungen als solche geglaubt und nicht – wie das heute oft der Fall ist – als Alibimaßnahmen oder gar als Vertuschung ausgelegt.
* | Stellungnahme, präsentiert auf dem 14. Deutschen Lebensmittelrechtstag, 8. und 9. März 2001 in Wiesbaden. |