Fetischismus Wissenschaft
Rechtsanwalt Thomas Mettke, München
In seinem Bestsellerroman „Der Menschliche Makel“ erzählt Philipp Roth auch von einer Molkerei „Organic Lifestock“ – streßgeschädigte Bewohner einer Industriestadt kaufen auf der Suche nach ländlicher Reinheit dort ihre Milch. „Wenn wir Organic Lifestock Milch trinken, werden Körper, Geist und Seele als Ganzes gestärkt, verschiedene Organe unseres Körpers nehmen die Ganzheit wahr und wissen sie auf eine Weise zu würdigen, die uns nicht einmal bewußt ist.“ So wirbt die Molkerei für ihre Biomilch.
Mit der geplanten Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel ist mit der Vermittlung eines derartigen holistischen Weltbildes Schluß. Nach Artikel 11 sind alle impliziten gesundheitsbezogenen Angaben nicht zulässig, die auf allgemein nicht-spezifische Vorteile des Nährstoffs oder Lebensmittel in bezug auf allgemeine Gesundheit und Wohlbefinden verweisen. Das gleiche gilt für alle Angaben, die sich auf psychologische Funktionen oder Verhaltensfunktionen beziehen. Die Werbung von „Organic Lifestock“ könnte auch nicht in die nach Artikel 12 vorgesehene Liste von der Europäischen Kommission anerkannter Werbebehauptungen eingetragen werden, da diese nur für Nährstoffe und andere Substanzen für Wachstum, Entwicklung und normale physiologische Körperfunktionen auf der Grundlage etablierter und unumstrittener wissenschaftlicher Erkenntnisse gilt. Für Geist und Seele ist in der Liste kein Platz.
Aussichtslos wäre es auch, einen Antrag auf Zulassung nach Artikel 14 zu stellen. Wissenschaftliche Unterlagen darüber, daß „verschiedene Organe unseres Körpers die Ganzheit wahrnehmen“ wird die Molkerei „Organic Lifestock“ kaum beibringen können. Es hätte auch wenig Sinn, denn die Experten der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit würden wohl Formulierungen vorschlagen, die die Verbrauchererwartung der Käufer von Organic Lifestock Milch heftig enttäuschen würde. Die Sprache der wissenschaftlichen Experten kann nämlich immer nur Fachsprache sein; blutleere Terminologie also und damit das Gegenteil jeglicher Werbung. Keine Zeit mehr also für Dichter und Denker. Julius Maggi müßte den Vorsteher seines Reklamebüros, Frank Wedekind, auf der Stelle entlassen.
Fetischismus Wissenschaft – Die Forderung nach der wissenschaftlichen Absicherung, genauer gesagt nach Experimenten, bei jeder gesundheitsbezogenen Aussage wird immer mehr zu einem Ritual, zu einem Gegenstand magischer Beschwörungen. Auf der einen Seite soll nur mit „unumstrittenen Erkenntnissen“ geworben werden
Die geplante Verordnung soll dem Verbraucherschutz und dem fairen Wettbewerb dienen und die Marktteilnehmer vor Betrug und Täuschung schützen. Ein Urteil darüber, ob eine Werbeaussage täuschend ist oder nicht, ist eine rechtliche und nicht naturwissenschaftliche Frage. Die wissenschaftliche Absicherung von Angaben kann nicht dem Ziel dienen, die Werbung naturwissenschaftlich zu orientieren, sondern sie dient dem Zweck, die Verbraucher vor Täuschungen zu schützen. Eine eigene Rechtsqualität jenseits von Täuschung und Irreführung kann die wissenschaftliche Absicherung nicht beanspruchen. Wissenschaftliche Erkenntnisse haben bei der Beurteilung zwar eine bedeutsame, aber letztlich nur eine Hilfsfunktion. Sie dürfen der Werbung die Freiheit der Sprache und der Wortwahl nicht versagen.
Dagegen will die neue „Claims“-Verordnung eine von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit zentral gesteuerte Sprachregelung auf bürokratischem Weg verbindlich verordnen. Das ist keine Verbraucherschutzpolitik, sondern Machtpolitik eines sich absolut sehenden Expertentums – „Unfehlbarkeit im Lehramt besitzt auch das Bischofskollegium“ (Codex Juris Canonici, Can. 749, § 2). Werbung ist Kommunikation zwischen Wirtschaft und Verbraucher. Hier geht es nicht nur um stoffliche Wirkungszusammenhänge. Keine Aussage in der Werbung steht für sich allein, sondern besteht aus vielfältigen Motiven, aus Bildern, Ideen und Lebensgefühlen. Gerade auf dem Gebiet der Ernährung mit seinem jahrtausendalten Erfahrungswissen muß sich Widerspruch regen, wenn die Kommunikation nicht mehr alle Lebenszusammenhänge erfassen darf, sondern nur aus abstrakten, wissenschaftlichen Wortgebilden bestehen soll. Kant hat der Kausalität des Naturgeschehens die Freiheit der praktischen Vernunft des Menschen gegenüber gestellt. Hierin liegt das Wesen des Rechts. Diesem Prinzip erneut zum Durchbruch zu verhelfen, ist eine große Aufgabe der Europäischen Lebensmittelwirtschaft.