Die Aktie: Möglichkeit vs. Realität
Überbordende Kapitalmarktregeln dürfen die Akzeptanz der Aktie nicht beeinträchtigen.
“Wenn es die Aktie nicht gebe, man müsste sie erfinden.“ Zwar ist mit dieser Aussage die Bedeutung der Aktie auf den Punkt gebracht; in Deutschland herrscht allerdings immer noch eine weitgehende Skepsis gegenüber Aktien oder Aktienfonds, in die nur 13 Prozent der Anleger investieren. Im Vergleich dazu ist die Aktienanlage im angelsächsischen Bereich fest etabliert. In den USA legt jeder Zweite entweder direkt oder indirekt in Aktien an.
Die geringe Aktienakzeptanz unter den deutschen Privatanlegern ist zu einem erheblichen Teil auf das volatile Marktumfeld und die steuerlichen Rahmenbedingungen zurückzuführen. Nach dem Platzen der Blase am Neuen Markt hat sich die Zahl der Aktionäre um vier Millionen verringert. Aus vermögenspolitischer Sicht ist dies äußerst problematisch, müssen doch Altersvorsorge und Vermögensaufbau auch mit Aktien bei nachlassender Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung stärker an Bedeutung gewinnen.
Die gestiegene Unsicherheit über den künftigen Konjunkturverlauf ändert nichts an dieser Notwendigkeit. Ganz im Gegenteil gehören Aktien als Substanzwerte in jedes Depot, da sie bei einem entsprechenden Anlagehorizont attraktive Renditen erwirtschaften können. In der kurzen Frist sollte der Anleger allerdings nicht von überzogenen Renditeerwartungen ausgehen. Im Fokus steht derzeit vielmehr der Kapitalerhalt nach Abzug der Inflationsrate. Ob dieser bei dem aktuellen Zinsniveau mit festverzinslichen Anlageformen gelingt, ist hingegen mehr als fraglich. Umso wichtiger wäre es, die steuerliche Diskriminierung der Aktie – wie im Koalitionsvertrag vorgesehen – endlich zu beseitigen.
Die wechselhafte Entwicklung an den Börsen hat sich auch deutlich auf die Bereitschaft der Unternehmen ausgewirkt, den Aktienmarkt als Finanzierungsquelle in Anspruch zu nehmen. Die Zahl der Neuemissionen ist noch längst nicht auf dem Vorkrisenniveau. Insgesamt gibt es rund 700 börsennotierte deutsche Aktiengesellschaften. Um zu den USA aufzuschließen, wo mehr als 4 000 Unternehmen die Eigenkapitalbeschaffung über Börsen nutzen, müsste die Zahl der Neuemissionen deutlich steigen.
Um diesen Rückstand aufzuholen, müssten sich nicht nur die Märkte beruhigen, sondern auch Vorbehalte – insbes. im größeren Mittelstand – gegenüber dem Börsengang ausgeräumt werden. Einer Umfrage zufolge, die das Deutsche Aktieninstitut im letzten Jahr durchgeführt hat, kann sich nur jeder siebte Mittelständler mit einem Jahresumsatz von mehr als 10 Mio. Euro den Börsengang überhaupt prinzipiell vorstellen. Dieser Befund ist erstaunlich, da gleichzeitig ein Großteil der Mittelständler Schwierigkeiten sieht, den künftigen Finanzierungsbedarf über den klassischen Bankkredit abdecken zu können.
Umso wichtiger wäre es, Kapitalmarkt und Börse als Alternativen zur Bankfinanzierung zu stärken. Hierfür ist ein effizienter Ordnungsrahmen erforderlich, von dem wir seit der Lehman-Insolvenz im September 2008 weiter denn je entfernt sind. Zwar mussten entsprechende Lehren aus den vergangenen Entwicklungen gezogen und Regulierungslücken geschlossen werden. Die Fülle an bereits verabschiedeten oder noch geplanten Maßnahmen droht aber die Aktivitäten am Kapitalmarkt zum Nachteil von Unternehmen und Anlegern zu beeinträchtigen. Basel III, Solvency II, MiFID/MiFIR, Finanztransaktionssteuer, Überarbeitung der Marktmissbrauchsrichtlinie und der Transparenzrichtlinie, Regulierung von Leerverkäufen, Derivaten, Ratingagenturen, Wirtschaftsprüfern und Schattenbanken, Gesetzesvorschläge im Bereich der Corporate Governance – mit diesen Stichwörtern ist nur ein Ausschnitt der beschlossenen bzw. angedachten Initiativen benannt.
Offensichtlich nimmt der Gesetzgeber den eigenen Anspruch, kein Produkt und keinen Markt unreguliert zu lassen, sehr ernst. Woran es aber fehlt, ist die notwendige Koordination der einzelnen Aktivitäten und eine sinnvolle Prioritätensetzung. Ebenso fehlt eine fundierte Analyse, wie sich dieses umfassende Regulierungspaket in seiner Gesamtheit auf die Kapitalmärkte auswirken wird. Die Vielzahl ungelöster Detailfragen legt die Vermutung nahe, dass zahlreiche Regeln die Möglichkeit von Unternehmen und Anlegern, Kapital aufzunehmen bzw. anzulegen, verschlechtern wird.
Was früher richtig war, gilt heute unverändert: Aus gesamt- und einzelwirtschaftlicher Sicht sind Aktien in ihrer Funktion als Finanzierungs- und Anlageinstrument unentbehrlich. Umso wichtiger ist es, mit entsprechenden Rahmenbedingungen die Skepsis der Deutschen gegenüber diesem Finanzierungsinstrument zu überwinden.
Prof. Dr. Rüdiger von Rosen war vom 1.1.1995 bis zum 30.6.2012 geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Deutschen Aktieninstituts e. V. in Frankfurt a. M.