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06.12.2003
: Inspire Art - Der europäische Wettbewerb um das Gesellschaftsrecht ist endgültig eröffnet

I. EinleitungNoch längst ist der Nachhall von Überseering1EuGH, Urteil vom 5. 11. 2002 - Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919 = RIW 2002, 945 = BB 2002, 2402 = NJW 2002, 3614 - Überseering; siehe dazu auch die Schlussanträge von GA Ruiz-Jarabo Colomer vom 4. 12. 2001, abrufbar unter: www.curia.eu.int; Leitsätze auch abgedruckt in BB 2002, 326. nicht verklungen2Siehe allein die zahlreichen Beiträge wie Behrens, IPRax 2003, 193; Ebke, JZ 2003, 927; Eidenmüller, JZ 2003, 526; ders., ZIP 2002, 2233; Forsthoff, DB 2003, 979; ders., DB 2002, 2471; Geyrhalter/Gänßler, NZG 2003, 409; Großerichter, DStR 2003, 159; v. Halen, WM 2003, 571; Henze, DB 2003, 2159; KindlerNJW 2003, 1073; Leible/Hoffmann, ZIP 2003, 925; dies., NZG 2003, 259; dies., RIW 2002, 925; Lutter, BB 2003, 7; Paefgen, WM 2003, 561; W.-H. Roth, IPRax 2003, 117; Schanze/Jüttner, AG 2003, 30; Schulz, NJW 2003, 2705; Schulz/Sester, EWS 2002, 545; Weller, IPRax 2003, 324; ders., IPRax 2003, 207; Zimmer, BB 2003, 1., folgt schon mit Inspire Art3EuGH, Urteil vom 30. 9. 2003 - Rs. C-167/01, RIW 2003, 957 (in diesem Heft) = BB 2003, 2195 = DB 2003, 2219 - Inspire Art; siehe auch die Schlussanträge von GA Alber vom 30. 1. 2003, DB 2003, 377; Urteil und Schlussanträge auch abrufbar unter: www.curia.eu.int der nächste »landmark case« im internationalen Gesellschaftsrecht. Das Gebäude des europäischen Gesellschaftsrechts nimmt langsam Gestalt an, indem sich der Bogen von Daily Mail, Centros über Überseering bis zu dieser am 30. 9. 2003 ergangenen Entscheidung des EuGH spannt. Nachdem sich Kommission, Rat und Parlament mehr als schwer tun, das Gesellschaftsrecht durch Harmonisierungen voranzutreiben, auch wenn in jüngster Zeit durch den Aktionsplan der EU4Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament, Modernisierung des Gesellschaftsrechts und Verbesserung der Corporate Governance in der Europäischen Union - Aktionsplan vom 21. 5. 2003, KOM(2003)284 endg., abrufbar unter: www.europa.eu.int. im Gefolge des Berichts der High Level Experts5Report of the High Level Group of Company Law Experts on a Modern Regulatory Framework for Company Law in Europe vom 4. 11. 2002, abrufbar unter: www.europa.eu.int, in Auszügen auch abgedruckt in: ZIP 2003, 863; siehe dazu Wiesner, ZIP 2003, 977. neue Impulse zu erwarten sind, dürfte durch die Urteile des EuGH ein wesentlich kräftigerer Anreiz für das europäische Gesellschaftsrecht ausgehen, werden doch de facto dem Wettbewerb der Rechtsordnungen die Schleusen geöffnet. Das nationale Gesellschaftsrecht sieht sich von zwei Seiten in die europäische Zange genommen: einerseits durch die Einführung der Gründungstheorie in Europa für das Internationale Gesellschaftsrecht, andererseits durch die Prüfung der nationalen Vorschriften anhand der Grundfreiheiten, allen voran der Kapitalverkehrsfreiheit6Siehe dazu die Urteile des EuGH zu den Golden Shares, EuGH, Urteil vom 13. 5. 2003 - Rs. C-463/00 (Kommission der Europäischen Gemeinschaften/Königreich Spanien), RIW 2003, 869 = NJW 2003, 2663 = EuZW 2003, 529 m. Anm. Ruge - Repsol, und Rs. C-98/01 (Kommission der Europäischen Gemeinschaften/Vereinigtes Königreich Großbritannien), RIW 2003, 872 = NJW 2003, 2666 = EuZW 2003, 536 m. Anm. Ruge - BAA; siehe dazu auch die Besprechung von Kilian, NJW 2003, 2653; Grundmann/Möslein, ZGR 2003, 317; Spindler, RIW 2003, 850, je m. w.N.; rechtsvergleichend: Grundmann/Möslein, ZVglRWiss 102 (2003), 289.. Die Entscheidung »Inspire Art« stellt den vorläufigen Höhepunkt für das internationale Gesellschaftsrecht und die Reichweite der in Art. 43 und 48 EG normierten Niederlassungsfreiheit dar. Demgemäß wird zunächst ein kurzer Überblick über die Entwicklung und die Auswirkungen auf das Internationale Gesellschaftsrecht bis Inspire Art gegeben (II.), um dann die Fortentwicklungen durch Inspire Art zu würdigen (III.). Was für das deutsche Gesellschaftsrecht verbleibt, ist derzeit kaum absehbar und Gegenstand erster Überlegungen (IV. 2.).II. Die Entwicklung bis zu Inspire Art1. Sitz- vs. GründungstheorieDie Anknüpfung des Gesellschaftsstatuts ist in Deutschland im Gegensatz zu vielen anderen Staaten7So etwa die Schweiz in Art. 154 IPRG; ein Überblick über weitere Kollisionsrechtskonzepte findet sich bei Zimmer, RabelsZ 67 (2003), 298; siehe auch Kindler, in: Münchener Komm.-BGB, 3. Aufl. 1999, Internationales Gesellschaftsrecht Rdnr. 380 ff. gesetzlich nicht geregelt. Sie ist daher seit jeher Gegenstand kontroverser Diskussion, in der im Wesentlichen zwei Anknüpfungsmomente vertreten werden. Während zum einen zur Bestimmung des Gesellschaftsstatuts an den effektiven Verwaltungssitz8BGH, Urteil vom 21. 3. 1986 - V ZR 10/85, BGHZ 97, 269, 272 = NJW 1986, 2194, 2195: Der »Ort, wo die grundlegenden Entscheidungen der Unternehmensleitung effektiv in laufende Geschäftsführungsakte umgesetzt werden«. angeknüpft wird (Sitztheorie), ist nach Vertretern der Gründungstheorie das Statut maßgebend, nach dem die Gesellschaft errichtet wurde9Ausführlicher Überblick bei Staudinger/Großfeld, Internationales Gesellschaftsrecht, 13. Bearb. 1998, Rdnr. 20 ff.; Kindler, in: Münchener Komm.-BGB (Fn. 7), Internationales Gesellschaftsrecht Rdnr. 258 ff.. Bestehen bei einer gleichzeitigen Verlegung von Satzungs- und Verwaltungssitz zwischen den beiden Theorien noch keine Unterschiede, so divergieren sie bekanntermaßen in Fallkonstellationen, in denen eine Gesellschaft lediglich ihren Verwaltungssitz verlegt. In letzterem Fall bleibt nach der Gründungstheorie das Gründungsrecht maßgebliches Gesellschaftsstatut. Die von der Rechtsprechung10BGH, Urteile vom 30. 1. 1970 - V ZR 139/68, BGHZ 53, 181; BGH, 21. 3. 1986 - V ZR 10/85, BGHZ 97, 269 = NJW 1986, 2194; BGH, Beschluss vom 30. 3. 2000 - VII ZR 370/98, ZIP 2000, 967; BayObLG, Beschluss vom 26. 8. 1998 - 3Z BR 78/98, RIW 1998, 966; OLG Hamm, Beschluss vom 30. 4. 1997 - 15 W 91/97, RIW 1997, 874; OLG Brandenburg, Urteil vom 31. 5. 2000 - 14 U 144/99, ZIP 2000, 1616. und der herrschenden Literatur11Statt vieler: Staudinger/Großfeld (Fn. 9), Rdnr. 38; Kindler, in: Münchener Komm.-BGB (Fn. 7), Internationales Gesellschaftsrecht Rdnr. 264 ff., je m. w. N. bisher vertretene Sitztheorie hingegen versagt der Gesellschaft die Anerkennung, da sie nicht nach dem dieser Lehre nach berufenen Recht des Zuzugsstaates organisiert ist12Siehe Behrens, IPRax 2003, 193, 194; ausführlich statt vieler Zimmer, Internationales Gesellschaftsrecht, 1996, S. 197 ff..Vor dem Hintergrund eines gemeinsamen Binnenmarktes rückten die nationalen Kollisionsrechte zunehmend ins Licht der Grundfreiheiten. Angelpunkt der vorgenannten Entscheidungen des EuGH war dann auch die Frage, inwieweit in der gemeinschaftsrechtlich garantierten Niederlassungsfreiheit, Art. 43 und 48 EG, eine eigenständige Kollisionsnorm enthalten ist. Insbesondere die auch in Deutschland geltende Sitztheorie sah sich früh dem Verdacht der Europarechtswidrigkeit ausgesetzt.2. Überseering und die FolgenEntscheidende13Zwar geriet die Sitztheorie erstmals durch Centros in Bedrängnis, ob der Vielfalt der Interpretationen ließ sich aber keine einheitliche Konsequenz ziehen; dazu m. w. N. Zimmer, BB 2003, 1; siehe auch Bayer, BB 2003, 2357, 2360; Behrens, IPRax 2004 (erscheint demnächst), unter I. Bedeutung kam daher dem Urteil des EuGH vom 5. 11. 2002 in der Rechtsache »Überseering B.V.«14EuGH, Urteil vom 5. 11. 2002 - Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919 = RIW 2002, 945 = BB 2002, 2402 = NJW 2002, 3614 - Überseering; siehe dazu auch die Schlussanträge von GA Ruiz-Jarabo Colomer vom 4. 12. 2001, abrufbar unter: www.curia.eu.int; Leitsätze auch abgedruckt in: BB 2002, 326. zu, stand doch die Aberkennung der Rechtsfähigkeit als Folge der Sitztheorie auf dem Prüfstand der Art. 43 und 48 EG. Die Überseering B.V., eine nach niederländischem Recht gegründete Gesellschaft mit beschränkter Haftung, deren effektiver Verwaltungssitz in Deutschland zu lokalisieren war, war von den deutschen Gerichten infolge der Sitztheorie als nicht rechtsfähig behandelt worden. Sich in ihrer Niederlassungsfreiheit verletzt sehend, bewirkte sie einen Instanzenzug, welcher in dem Vorlagebeschluss des XII. Zivilsenats15BGH, Beschluss vom 30. 3. 2000 - VII ZR 370/98, ZIP 2000, 967 = RIW 2003, 474. gipfelte.3. Das Ende der Sitztheoriea) In der bisherigen FormIn der Vorabentscheidung läutete der EuGH für Zuzugsfälle das Ende der Sitztheorie ein, indem er die Aberkennung der Rechts- und Parteifähigkeit, wie es die Sitztheorie als Folge vorsah, als mit den in Art. 43 und 48 EG garantierten Niederlassungseinheit unvereinbar erklärt. Eine solche Rechtsfolge, die die Gesellschaft nicht anerkenne, läuft der Niederlassungsfreiheit diametral entgegen. Dementsprechend kurz befasste sich der Gerichtshof dann auch mit möglichen Rechtfertigungsgründen. Zwar ließe sich »nicht ausschließen, dass zwingende Gründe des Gemeinwohls [...] unter bestimmten Umständen und unter Beachtung bestimmter Voraussetzungen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit rechtfertigen können«16EuGH, Urteil vom 5. 11. 2002 - Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919 = RIW 2002, 945 = BB 2002, 2402 = NJW 2002, 3614 - Überseering, Rdnr. 92.. Jedoch könne die Aberkennung der Rechts- und Parteifähigkeit nicht mit diesen Zielen gerechtfertigt werden:»Eine solche Maßnahme kommt nämlich der Negierung der den Gesellschaften in den Art. 43 EG und 48 EG zuerkannten Niederlassungsfreiheit gleich.«17EuGH, Urteil vom 5. 11. 2002 - Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919 = RIW 2002, 945 = BB 2002, 2402 = NJW 2002, 3614 - Überseering, Rdnr. 93.b) In der »modifizierten « Fassung des II. SenatsWährend somit die Sitztheorie in ihrer bis dato vertretenen Form europarechtswidrig ist, hatte sich kurz zuvor ein Wechsel in der Rechtsprechung des BGH vollzogen. Der II. Zivilrechtssenat18BGH, Urteil vom 1. 7. 2002 - II ZR 380/00, BGHZ 151, 204 = RIW 2002, 877 = NJW 2002, 3539. schloss sich in seiner Entscheidung einer bereits zuvor im Schrifttum vertretenen19Roth, ZIP 2000, 1597; Zimmer, BB 2000, 1361; Müller, ZIP 1997, 1049. »modifizierten Sitztheorie« an. Danach wird einer ausländischen Gesellschaft bei Sitzverlegung nun nicht mehr die Rechts- und Parteifähigkeit aberkannt. Sie wird vielmehr in eine deutsche Personengesellschaft umqualifiziert. Mit dieser Rechtsprechungsänderung versuchte man die als »Steilvorlage« zur Absage an die Sitztheorie empfundene Vorlage des VII. Senats zu relativieren und so die Sitztheorie vor dem Verdikt ihrer Unvereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht zu retten20Siehe dazu und zur Intention des II. Senats: Henze, DB 2003, 2159, insb. 2164..Gleichwohl hat auch diese modifizierte Sitztheorie der Überseering-Entscheidung nicht standgehalten. Auch wenn der EuGH zumindest nicht erkennbar auf die mit der Entscheidung des II. Senats eingetretene Änderung in der deutschen Rechtsprechung einging, so enthalten seine Ausführungen doch auch für die modifizierte Sitztheorie gültige Aussagen:»Überseering genießt aufgrund der Art. 43 und 48 EG das Recht als Gesellschaft niederländischen Rechts in Deutschland von ihrer Niederlassungsfreiheit Gebrauch zu machen. Ihre Existenz hängt sogar untrennbar mit ihrer Eigenschaft als Gesellschaft niederländischen Rechts zusammen.«21EuGH, Urteil vom 5. 11. 2002 - Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919 = RIW 2002, 945 = BB 2002, 2402 = NJW 2002, 3614 - Überseering, Rdnr. 80, 81 (Hervorhebungen der Verf.).Somit hätten die Mitgliedstaaten die Rechtsfähigkeit zu »achten«, die die Gesellschaft nach dem Recht ihres Gründungsstaates besitzt22EuGH, Urteil vom 5. 11. 2002 - Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919 = RIW 2002, 945 = BB 2002, 2402 = NJW 2002, 3614 - Überseering, Leitsatz 2.. Ebendiese Ausführungen lassen aber auch die Konstruktion des II. Senats zu Makulatur werden. Denn durch eine Umwandlung ex lege in eine deutsche Personengesellschaft wird zwar die Rechts- und Parteifähigkeit gewährleistet, jedoch wird der Gesellschaft ein inländisches Kleid, das unter anderem eine in den Niederlanden nicht geltende persönliche Haftung der Gesellschafter vorsieht, übergestreift und ihr so eine andere Rechtsfähigkeit zugestanden als diejenige, die sie nach dem Recht des Gründungsstaates besitzt. Mit den Aussagen des Überseering-Urteils ist dies nicht vereinbar23Ebenso Behrens, IPRax 2003, 193, 200; Lutter, BB 2003, 7, 9; Eidenmüller, ZIP 2002, 2233, 2242; ders., JZ 2003, 527; Leible/Hoffmann, RIW 2002, 925, 928; dies., ZIP 2003, 925, 926; Forsthoff, DB 2003, 979, 979; Kallmeyer, DB 2002, 2521; Ebke, JZ 2003, 927, 929; Zimmer, BB 2003, 1, 5 f. A. A. Kindler, NJW 2003, 1073; ders., BB 2003, 812; Großerichter, DStR 2003, 159, 166; wohl auch Neye, EWiR 2002, 1003, 1004; Wernicke, EuZW 2002, 758, 760; ähnlich noch W. H. Roth, IPRax 2003, 11, 122 f.; siehe aber auch Henze, DB 2003, 2159, 2156, der selbst Zweifel an der Vereinbarkeit hat..c) Auswirkungen der EntscheidungEntgegen einigen Versuchen, die Aussagen des EuGH-Urteils zu relativieren und an der Sitztheorie festzuhalten24So LG Frankenthal, Beschluss vom 6. 12. 2002 - 1 HK. T 9/02, BB 2003, 543 = NZG 2003, 189; siehe auch AG Hamburg, Beschluss vom 14. 5. 2003 - 67g IN 358/02, BB 2003, 1457 = DStR 2003, 1763 mit Anm. Lürken., erfolgte in der Rechtsprechung nach und nach die Abkehr von dieser25Siehe BayObLG, Beschluss vom 19. 12. 2002 - 2 Z BR 7/02, DStR 2003, 653 = DB 2003, 819; OLG Zweibrücken, Urteil vom 26. 3. 2003 - 3 W 21/03, ZIP 2003, 849; einen Überblick m.w. Rspr. bieten Leible/Hoffmann, ZIP 2003, 925, 926 ff.; vgl. auch für US-Gesellschaften BGH, Urteil vom 29. 1. 2003 - VIII ZR 155/02, RIW 2003, 473 = BB 2003, 810 = ZIP 2003, 720; sowie direkt auf Überseering Bezug nehmend BFH, Urteil vom 29. 1. 2003 - I R 6/99, RIW 2003, 627, 628.. Den Vorgaben des EuGH entsprechend hat der VII. Senat in seiner Überseering-Entscheidung26BGH, Urteil vom 13. 3. 2003 - VII ZR 370/98, RIW 2003, 474, mit Anm. Merkt, RIW 2003, 458 = NJW 2003, 1461. dann auch zu Recht einen Paradigmenwechsel eingeleitet und die »modifizierte« Sitztheorie des II. Senats expressis verbis abgelehnt. Für die Bestimmung der Rechts- und Parteifähigkeit von Gesellschaften, die in einem Mitgliedstaat wirksam errichtet worden sind und sich im Inland niedergelassen haben, ist nunmehr die Gründungstheorie entscheidend. Eine Anknüpfung an den effektiven Verwaltungssitz ist jedenfalls für den Zuzug von in einem anderen EU-Mitgliedstaat gegründeten Gesellschaften überholt.4. Sonderanknüpfungen als Rettung deutscher Interessen?Unter dem zunehmenden Eindruck der Europarechtswidrigkeit der Sitztheorie - in allen Formen - und der Bestätigung des Paradigmenwechsels durch den BGH27BGH, Urteil vom 13. 3. 2003 - VII ZR 370/98, RIW 2003, 474, mit Anm. Merkt, RIW 2003, 458 = NJW 2003, 1461. rückte vermehrt die Frage nach möglichen »Auswegen« ins Zentrum des Interesses. Entscheidend für die »Rettung deutscher Interessen« - wie auch umgekehrt für einen Wettbewerb der Gesellschaftsrechte28Ebke, JZ 2003, 927, 930. - erschien nach Überseering, ob und wieweit den EU-Mitgliedstaaten Möglichkeiten eröffnet blieben, das ausländische Gesellschaftsstatut durch einzelne Sondervorschriften des inländischen Rechts zurückzudrängen. Der BGH hatte, was der vorliegende Sachverhalt aber auch nicht erforderte, keine Stellung dazu genommen, wie das Gesellschaftsstatut im Übrigen zu bestimmen sei. Offen blieb also, ob über die Frage der Rechtsfähigkeit hinaus eine Verweisung auf das Gründungsrecht einer Gesellschaft als ihrem maßgeblichen Gesellschaftsstatut zu erfolgen hat oder aber zwingendes deutsches Sachrecht, wie etwa Kapitalausstattung, Gesellschafter- und Geschäftsführerhaftung und unternehmerische Mitbestimmung, das Gesellschaftsstatut überlagern könnte29Für die Möglichkeit von Sonderanknüpfungen Forsthoff, DB 2003, 979, 989; dagegen eine uneingeschränkte Gründungstheorie befürwortend Ebke, JZ 2003, 927, 932; Eidenmüller, ZIP 2002, 2233, 2242; ders., JZ 2003, 526, 528; Behrens, IPRax 2003, 193, 205; siehe zum Ganzen auch Behrens, IPRax 2004 (erscheint demnächst) unter I.. Insbesondere die sybillinische Formulierung des EuGH in der Überseering-Entscheidung, dass zwingende Allgemeininteressen des Niederlassungsstaates eine Abkehr von der Anknüpfung an den Gründungssitz rechtfertigen könnten30EuGH, Urteil vom 5. 11. 2002 - Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919 = RIW 2002, 945 = BB 2002, 2402 = NJW 2002, 3614 - Überseering, Rdnr. 92: »Es lässt sich nicht ausschließen, dass zwingende Gründe des Gemeinwohls, wie der Schutz der Interessen der Gläubiger, der Minderheitsgesellschafter, der Arbeitnehmer oder auch des Fiskus, unter bestimmten Umständen und unter Beachtung bestimmter Voraussetzungen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit rechtfertigen können.«, ließen die Überlegungen ins Kraut schießen, zahlreiche deutsche Institutionen zu »retten«, etwa das Mitbestimmungsrecht, aber auch den Gläubigerschutz31In diese Richtung v. Halen, WM 2003, 571, 576 f.; Geyrhalter/Gänßler, NZG 2003, 409, 413 f.; Forsthoff, DB 2003, 979, 981; Neye, EWiR 2002, 1003, 1004; Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2003, Rdnr. 13 b; wohl auch Buck, WuB II N. Art. 43 EG 2. 3.. Als Vehikel hierzu bot sich die schon früher von Sandrock entwickelte Überlagerungstheorie an, die zwar grundsätzlich die Anknüpfung an den Gründungssitz anerkannte, aber durch Sonderanknüpfungen das an sich anwendbare Gesellschaftsrecht des Gründungsstaates »überlagert«32So schon lange vor Überseering Sandrock, BerDtGesVR 18 (1978), 169, 201; ders., BB 1999, 1337, 1343, der diese auch treffend als Überlagerungstheorie bezeichnete. Jedoch kehrte er selbst dieser nach Überseering den Rücken, vgl. RehbergIPRax 2003, 230, 235; ebenso die Überlagerungstheorie ablehnend Ebke, JZ 2003, 927, 932; Behrens, IPRax 2003, 193, 205; ders., IPRax 2004 (erscheint demnächst) unter I.; Eidenmüller, JZ 2003, 526, 528..III. Inspire ArtDie mit Spannung erwartete Inspire Art-Entscheidung des EuGH vom 30. 9. 200333EuGH, Urteil vom 30. 9. 2003 - Rs. C-167/01, RIW 2003, 957 (in diesem Heft) = BB 2003, 2195- Inspire Art. beantwortet nun die Frage zu Gunsten einer (weit gehend) uneingeschränkten Gründungstheorie. Während Daily Mail34EuGH, Urteil vom 27. 9. 1988 - Rs. C-81/87, Slg. 1988, I-5483, 5511 = RIW 1989, 304 - Daily Mail. einen so genannten Wegzugsfall betraf, ordnet sich Inspire Art als Entscheidung zur Niederlassungsfreiheit in einem Zuzugsfall auf der Ebene von Centros35EuGH, Urteil vom 9. 3. 1999 - Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459 - Centros. und Überseering36EuGH, Urteil vom 5. 11. 2002 - Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919 = RIW 2002, 945 = BB 2002, 2402 = NJW 2002, 3614 - Überseering. ein37Aus der formalen Unterscheidung zwischen primärer (»Daily Mail«, »Überseering«) und sekundärer (»Centros«, »Inspire Art«) Niederlassungsfreiheit ergibt sich keine unterschiedliche rechtliche Behandlung, siehe auch Leible/Hoffmann, EuZW Heft 22/2003 (erscheint demnächst), unter I.; Behrens, IPRax 1999, 323, 330; Göttsche, DStR 1999, 1403, 1405; Forsthoff, EuR 2000, 167, 181 ff.; Schlussanträge GA Alber vom 30. 1. 2003, DB 2003, 377, 379 Rdnr. 103; zumal der EuGH die sekundäre Niederlassungsfreiheit als typische Form der grenzüberschreitenden Niederlassung begreift: EuGH, Urteil vom 27. 9. 1988 - Rs. C-81/87, Slg. 1988, I-5483, 5511 = RIW 1989, 304, Rdnr. 17 - Daily Mail; siehe auch EuGH, Urteil vom 3. 7. 1993 - Rs. C-330/91, Slg. 1993, I-4017, 4043 Rdnr. 13 - Commerzbank.. Entscheidender und für die weitere Entwicklung des europäischen Gesellschaftsrechts nach Überseering relevanter Unterschied ist indes,dass das niederländische Recht nicht die Eintragung der Gesellschaft oder deren Tätigkeit als solche verhindert, sondern vielmehr zusätzlich zu den Vorschriften des Gründungstaates38Gemäß Art. 2 Wet conflictenrecht corporaties (Gesetz mit Kollisionsnormen für Körperschaften), Staatsblad 1997, Nr. 699, sieht das niederländische Kollisionsrecht grundsätzlich eine Anknüpfung an den Gründungsort vor. die Bestimmungen der Wet op de formeel buitenlandse vennootschappen (WFBV)39Vom 17. 12. 1997, niederl. Staatsblad 1997, Nr. 697; zu den betroffenen Vorschriften siehe EuGH, Urteil vom 30. 9. 2003 - Rs. C-167/01, RIW 2003, 957 (in diesem Heft) = ZIP 2003, 1885 = BB 2003, 2195 - Inspire Art, Rdnr. 22-33; sowie Schlussanträge GA Alber vom 30. 1. 2003, Rdnr. 2; Urteil und Schlussanträge auch abrufbar unter: www.curia.eu.int. zur Geltung bringt.Der der Entscheidung zu Grunde liegende Sachverhalt betraf die Inspire Art Limited, die nach englischem Recht gegründet ihre Geschäftstätigkeit einzig über eine Niederlassung in den Niederlanden ausübt. Infolgedessen fiel sie in den Anwendungsbereich der WFBV, welche solche formal ausländischen Gesellschaften, die ihre Tätigkeiten nahezu vollständig in den Niederlanden ausüben und keine tatsächliche Bindung zu dem Gründungsstaat haben (Art. 1 WFBV), bestimmten gesellschaftsrechtlichen Vorschriften unterwirft, neben verschiedenen Offenlegungspflichten nach Art. 2 WFBV zur Eintragung als »formal ausländisch« ins Handelsregister sowie zu entsprechender Firmierung mit diesem Zusatz. Zum weiteren Schutz des Rechtsverkehrs ist ein dem niederländischen Recht entsprechendes Mindestkapital40Art. 4 Abs. 1 WFBV verweist insoweit auf Art. 178 des Zweiten Buches des Burgerlijk Wetboek, der für niederländische Gesellschaften mit beschränkter Haftung ein Mindestkapital von 18 000 Euro vorschreibt. erforderlich. Sanktioniert werden diese Pflichten nach Art. 4 Abs. 4 WFBV mit einer persönlichen Haftung der Gesellschafter bis zu Erfüllung der genannten Voraussetzungen. Das gegen diese Vorschriften von der Inspire Art angerufene Kantongerecht Amsterdam legte dem EuGH zur Vorabentscheidung im Wesentlichen die Frage vor, ob die genannten Pflichten mit Art. 43, 48 EG zu vereinbaren sind41Abgedruckt im EuGH, Urteil vom 30. 9. 2003 - Rs. C-167/01, RIW 2003, 957 (in diesem Heft) = ZIP 2003, 1885 = BB 2003, 2195 - Inspire Art, Rdnr. 39; siehe aber zur Würdigung durch den EuGH auch Rdnr. 52; abrufbar auch unter: www.curia.eu.int.. Damit standen aus deutscher Sicht Vorschriften auf dem Prüfstand, die kollisionsrechtlich als Sonderanknüpfung einzuordnen sind42Dazu auch Weller, DStR 2003, 1800, 1801; Kleinert/Probst, DB 2003, 2217. Siehe dazu auch Art. 6 Wet conflictenrecht corporaties, Staatsblad 1997, Nr. 699, wonach dieses Gesetz, insb. Art. 2, unbeschadet des WFBV Geltung beansprucht.; implizit war demgemäß auch über die in Deutschland diskutierten Auswege zur Aufrechterhaltung als wichtig empfundener gesellschaftsrechtlicher Institutionen zu entscheiden.1. Verstoß gegen die Zweigniederlassungsrichtlinie (89/666/EWG)43Elfte Richtlinie 89/666/EWG vom 21. 12. 1989 über die Offenlegung von Zweigniederlassungen, die in einem Mitgliedstaat von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen errichtet wurden, die dem Recht eines anderen Staates unterliegen, ABlEG Nr. L 395, S. 36; auch abgedruckt bei: Habersack (Fn. 31), Rdnr. 134.Hinsichtlich der besonderen Publizitätspflichten des Art. 2 WFBV setzt der EuGH anders als der Generalanwalt Alber, der noch die Offenlegungspflichten als Beschränkung der Niederlassungsfreiheit ansah44Schlussanträge GA Alber vom 30. 1. 2003, DB 2003, 377, 380 Rdnr. 109. und diese anhand der Gebhard-Formel45EuGH, Urteil vom 30. 11. 1995 - Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165 - Gebhard; siehe auch EuGH, Urteile vom 31. 3. 1993 - Rs. C-19/92, Slg. 1993, I-1663 - Krauss; 9. 3. 1999 - Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459 - Centros; erstmals zur Niederlassungsfreiheit wohl EuGH, Urteil vom 30. 4. 1986 - Rs. 96/85, Slg. 1986, 1475 - Kom/Frankreich; davor zur Warenverkehrsfreiheit EuGH, Urteil vom 20. 2. 1979 - Rs. 120/78, Slg. 1979, 649, 662 Rdnr. 8 - Cassis de Dijon. als diskriminierend, ungeeignet und unverhältnismäßig46Schlussanträge GA Alber vom 30. 1. 2003, DB 2003, 377, 382 Rdnr. 140 (zur Diskriminierung), Rdnr. 145, 146 (zur Geeignetheit), Rdnr. 148 (zur Verhältnismäßigkeit); auch abrufbar unter: www.curia.eu.int. und somit als nicht mit der Niederlassungsfreiheit vereinbar beurteilte47Schlussanträge GA Alber vom 30. 1. 2003, Rdnr. 154, abrufbar unter: www.curia.eu.int = DB 2003, 377 Leitsatz 2., beim Sekundärrecht an, hier der Zweigniederlassungsrichtlinie. Soweit die im WFBV vorgesehenen Pflichten die in der Richtlinie vorgesehenen Offenlegungsmaßnahmen in innerstaatliches Recht umsetzten, sind sie nach Auffassung des EuGH nicht als Behinderung der Niederlassungsfreiheit anzusehen48EuGH, Urteil vom 30. 9. 2003 - Rs. C-167/01, RIW 2003, 957 (in diesem Heft) = ZIP 2003, 1885 - Inspire Art, Rdnr. 58; ausführlich und überzeugend dazu Leible/Hoffmann, EuZW Heft 22/2003 (erscheint demnächst) unter III. 1.. Jedoch interpretiert der EuGH die Niederlassungsrichtlinie als Vollharmonisierung, da die Richtlinie abschließend die den Mitgliedstaaten zusätzlich möglichen Publizitätspflichten aufzählt49EuGH, Urteil vom 30. 9. 2003 - Rs. C-167/01, RIW 2003, 957 (in diesem Heft) = ZIP 2003, 1885 - Inspire Art, Rdnr. 66 f., insb. Rdnr. 69, 70; ebenso auch Seibert, GmbHR 1992, 738; Habersack (Fn. 31), Rdnr. 122.. Die in der WFBV festgelegten Pflichten zur Eintragung im Handelsregister als formal ausländische Gesellschaft (Art. 2 WFBV) und zur zwingenden Firmierung als ebensolche (Art. 3 WFBV) gehen jedoch über die in Art. 2, 6 Richtlinie festgelegte bzw. mögliche Publizität hinaus50Siehe dazu EuGH, Urteil vom 30. 9. 2003 - Rs. C-167/01, RIW 2003, 957 (in diesem Heft) = ZIP 2003, 1885 - Inspire Art, Rdnr. 65, mit vollständiger Aufzählung der über die elfte Richtlinie hinausgehenden Offenlegungspflichten., so dass sie konsequenterweise gegen die Richtlinie verstoßen51EuGH, Urteil vom 30. 9. 2003 - Rs. C-167/01, RIW 2003, 957 (in diesem Heft) = ZIP 2003, 1885 - Inspire Art, Rdnr. 71 f.. Auch wenn man daher den inländischen Rechtsverkehr durch Publizität schützen will, stößt man auf durch die Niederlassungsrichtlinie aufgestellte, nicht überwindbare Schranken. Einer Deregulierung mithilfe größerer Information zieht der EuGH daher enge Grenzen. Jegliche nicht von der Richtlinie vorgesehene bzw. erlaubte Publizitätspflicht, die auf bestimmte ausländische Gesellschaften abzielt, scheidet damit aus.2. Beschränkung der Niederlassungsfreiheit durch Sonderregeln über Mindestkapital und persönliche HaftungKonkret an den Art. 43 und 48 EG waren demnach nur die Vorschriften zum Mindestkapital (Art. 4 Abs. 1 und 2 WFBV) sowie die an die Nichterfüllung der Vorschriften anknüpfende persönliche Haftung der Geschäftsführer (Art. 4 Abs. 4 WFBV) zu messen. Zunächst stellt der EuGH in konsequenter Fortführung seiner Rechtsprechung unmissverständlich klar, dass weder der Umstand, dass eine Gesellschaft in einem Mitgliedstaat nur errichtet werde, um sich in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen und dort die Geschäftstätigkeit vollständig oder fast vollständig auszuüben, noch die Tatsache, dass dies nur geschehe, um in den Genuss vorteilhafter Rechtsvorschriften zu gelangen, der Gesellschaft das Recht nehme, sich auf die Niederlassungsfreiheit zu berufen52EuGH, Urteile vom 30. 9. 2003 - Rs. C-167/01, RIW 2003, 957 (in diesem Heft) = ZIP 2003, 1885 - Inspire Art; unter Verweis auf: EuGH, Urteile vom 9. 3. 1999 - Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459 - Centros, und vom 10. 7. 1986 - Rs. 79/85, Slg. 1986, 2375 - Segers..Vor dem Verständnis der Niederlassungsfreiheit als Beschränkungsverbot53Siehe dazu EuGH, Urteile vom 12. 7. 1984 - Rs. C-107/83, Slg. 1984, 2971 - Klopp; 27. 9. 1988 - Rs. C-81/87, Slg. 1988, I-5483 - Daily Mail; 15. 5. 1997 - Rs. C-250/95, Slg. 1997, I-2471 - Futura Participations und Singer; sowie auch EuGH, Urteil vom 5. 11. 2002 - Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919 = RIW 2002, 945 = BB 2002, 2402 = NJW 2002, 3614 - Überseering; ebenso Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Kommentar des Vertrages über die Europäische Union und des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 2. Aufl. 2002, Art. 43 EG Rdnr. 28 f.; Herdegen, Europarecht, 5. Aufl. 2003, Rdnr. 282; zur Kapitalverkehrsfreiheit Spindler, RIW 2003, 850, 852. stellen nach Ansicht des Gerichtshofs Regelungen des Niederlassungsstaates wie diejenigen des WFBV Behinderungen der Niederlassungsfreiheit dar54EuGH, Urteil vom 30. 9. 2003 - Rs. C-167/01, RIW 2003, 957 (in diesem Heft) = ZIP 2003, 1885 = BB 2003, 2195 - Inspire Art, Rdnr. 100, 101.. Da nach der Rechtsprechung des EuGH die Niederlassungsfreiheit auch die bewusste Wahl eines Gründungssitzes bei gleichzeitiger ausschließlicher Tätigkeit in einen anderen Mitgliedstaat umfassen soll, ergibt sich fast als logische Konsequenz, dass die zwingende Anwendung der Vorschriften des WFBV gegen Art. 43, 48 EGV verstößt, da sie die freie Niederlassung behindern, indem besondere Anforderungen aufgestellt werden. Mit den Worten des EuGH unterliegen diese Gesellschaften »anderen Rechtsvorschriften als denen [...], die in den Niederlanden die Gründung von Gesellschaften mit beschränkter Haftung regeln, u. a., was die Vorschriften über das Mindestkapital und die Haftung der Geschäftsführer betrifft«55EuGH, Urteil vom 30. 9. 2003 - Rs. C-167/01, RIW 2003, 957 (in diesem Heft) = ZIP 2003, 1885 = BB 2002, 2195 - Inspire Art, Rdnr. 135 (Hervorhebung der Verf.).. In die Sprache des Kollisionsrechts übersetzt bedeutet dies, dass im Sinne der Einheitslehre56Zur Einheitslehre im traditionellen Sinn siehe Staudinger/Großfeld (Fn. 9), Internationales Gesellschaftsrecht Rdnr. 16; Kindler, in: Münchener Komm.-BGB (Fn. 7), Internationales Gesellschaftsrecht Rdnr. 412, jeweils m. w. N. das Gründungsstatut grundsätzlich für alle gesellschaftsrechtlichen Fragen berufen ist57Anders noch das Vorbringen der niederl. Regierung; angeführt bei EuGH, Urteil vom 30. 9. 2003 - Rs. C-167/01, RIW 2003, 957 (in diesem Heft) = ZIP 2003, 1885 = BB 2003, 2195 - Inspire Art, Rdnr. 77 ff.: Sie machte geltend, dass die WFBV die Niederlassungsfreiheit nicht beschränke, da durch die in den Niederlanden geltende Gründungstheorie die Existenz einer nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaates gegründeten Gesellschaft anerkannt werde. Lediglich unter bestimmten Voraussetzungen kämen neben dem Gründungsstatut die Vorschriften der WFBV zur Anwendung; siehe auch Bayer, BB 2003, 2357, 2363.. Wenn und soweit also neben den Vorschriften des Gründungsstatuts weitere Vorschriften des Niederlassungsstaates zur Anwendung gebracht werden, stehen die Art. 43 und 48 EG diesen - unbeschadet einer möglichen Rechtfertigung - entgegen. Damit unterliegt aber auch jegliche Sonderanknüpfung, die zur Anwendung anderer Rechtsregeln als derjenigen des Gründungsstaates auf die Gesellschaft führt, der Prüfung nach den Art. 43, 48 EG. Was allerdings von der Vielzahl von Normen als auf die Gesellschaft bezogen gelten kann, bleibt auch nach der Inspire Art ein offenes Feld. Geklärt ist jedenfalls, dass die Kapitalvorschriften und die Haftung der Organe dazu zählen müssen - wobei die niederländischen Vorschriften offensichtlich gesellschaftsrechtlicher Natur waren, so dass andere Haftungsgrundlagen noch zu diskutieren sind.3. Rechtfertigung der BeschränkungenDie als Verstoß gegen die Zweigniederlassungsrichtlinie qualifizierten Vorschriften der WFBV sind, wie der EuGH ausführt, einer Rechtfertigung nicht zugänglich58EuGH, Urteil vom 30. 9. 2003 - Rs. C-167/01, RIW 2003, 957 (in diesem Heft) = ZIP 2003, 1885 = BB 2003, 2195 - Inspire Art, Rdnr. 106; siehe dazu auch Weller, DStR 2003, 1800, 1802, mit Verweis auf EuGH, Urteil vom 20. 2. 1979 - Rs. C-120/78, Slg. 1979, 649 - Cassis de Dijon; Bleckmann, Europarecht, 6. Aufl. 1997, Rdnr. 1523., weswegen allein die Bestimmungen über das Mindestkapital sowie die Haftung der Geschäftsführer möglicherweise gerechtfertigt sein könnten.a) GläubigerschutzUnter Rekurs auf seine stetige Rechtsprechung zu den Voraussetzungen einer Rechtfertigung59EuGH, Urteile vom 30. 11. 1995 - Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165 - Gebhard; 31. 3. 1993 - Rs. C-19/92, Slg. 1993, I-1663 - Krauss; siehe dazu auch EuGH, Urteil vom 5. 11. 2002 - Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919 = RIW 2002, 945 = BB 2002, 2402 = NJW 2002, 3614 - Überseering. führt der Gerichtshof aus, dass Gründe des Gläubigerschutzes die Vorschriften über das Mindestkapital nicht zu rechtfertigen vermögen. Ohne auf die virulente Frage der Geeignetheit solcher Regelungen einzugehen60So hatten sich insb. die niederländische, die deutsche und die österreichische Regierung auf Art. 6 der Zweiten Richtlinie 77/91/EWG vom 13. 12. 1976 (zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften i. S. d. Art. 58 Abs. 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten) ABlEG 1977, Nr. L 26, S.1 berufen, die die Bedeutung des Mindestkapitals anerkenne; die Richtlinie ist auch abgedruckt bei: Habersack (Fn. 31), Rdnr. 206; dagegen die Geeignetheit anzweifelnd Report of the High Level Group of Company Law Experts on a Modern Regulatory Framework for Company Law in Europe vom 4. 11. 2002, S. 87, abrufbar unter: www.europa.eu.int., sieht der EuGH diese als nicht erforderlich an. Denn die Inspire Art trete als englische Gesellschaft auf. Potenzielle Gläubiger seien daher durch das Auftreten als ausländische Gesellschaft hinreichend unterrichtet, dass diese anderen als den innerstaatlichen Vorschriften zum Mindestkapital und der Haftung der Geschäftsführer unterliege - wobei der EuGH pikanterweise gerade die auf höchstmögliche Publizität und Transparenz gerichteten niederländischen Vorschriften als europarechtswidrig ansieht. Daneben könnten die Gläubiger sich ohnehin auf bestimmte gemeinschaftsrechtliche Schutzregelungen der Vierten und Elften Richtlinien berufen61EuGH, Urteil vom 30. 9. 2003 - Rs. C-167/01, RIW 2003, 957 (in diesem Heft) = ZIP 2003, 1885 = BB 2003, 2195 - Inspire Art, Rdnr. 135..Im Ergebnis ist dem EuGH zuzustimmen, jedoch überrascht die - wenn auch gewohnt kurze - undifferenzierte Begründung. Für zahlreiche vertragliche Gläubiger wird die Argumentation des EuGH verfangen. Durch eine ausreichende Publizität und Kenntlichmachung der Gesellschaft als ausländische Rechtsform sind diese Gläubiger ausreichend geschützt, da es ihnen im Prinzip unbenommen bleibt, sich vertragliche Sicherheiten einräumen zu lassen. Auch greift das Argument nicht, dass eine genauere Kenntnis ausländischer Gesellschaftsformen nicht erwartet werden könne oder unrealistisch sei62So Geyrhalter/Gänßler, NZG 2003, 409, 412; zustimmend Weller, DStR 2003, 1800, 1802; siehe auch W.-H. Roth, IPRax 2003, 117, 124, und ders., RabelsZ 55 (1991), 623, 654 ff., der auf die damit verbundenen Rechtsinformationskosten abstellt.. Denn neben der zu erwartenden schnellen Verbreitung von Basisinformationen63So zutreffend Eidenmüller, ZIP 2002, 2233, 2236. - wie sie auch im Laufe der Deregulierung des Gesellschaftsrechts in den USA festzustellen war64Siehe dazu Bebehuk, Federalism and the Corporation: The Desirable Limits on State Competition in Corporate Law, 105 Harv.L.Rev. 1437 (1992); Romano, The Genius of America Corporate Law, 1993; siehe auch Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im Europäischen Binnenmarkt, 2002, S.201 ff., insb. 211. - ist die von den Gläubigern erwartete Selbstinformation über (EU-)ausländische Gesellschaftsformen ein adäquater und zumutbarer Preis für die Vorteile eines zusammenwachsenden europäischen Binnenmarktes. Ein auf die Publizität und Transparenz aufbauendesSchutzsystem, das der EuGH deutlich favorisiert, ist insoweit ein richtiger Ansatz, da sich Sekundärmärkte mit den nötigen Informationen und Informationsanbietern herausbilden werden65Schon jetzt lassen sich zahlreiche Kanzleien beobachten, die für den deutschen Markt englische Limited anbieten. Es steht zu erwarten, dass mit entsprechender Verbreitung solcher Unternehmen im Markt auch die Information der Vertragspartner und der rechtsberatender Berufe zunehmen wird..Jedoch ist diese Begründung nicht ohne weiteres auf gesetzliche66Hierzu zählen auch der Fiskus oder Sozialversicherungsunternehmen., insbesondere deliktische, Gläubiger oder solche Gläubiger, die ihrem Vertragspartner nicht ausweichen können, wie etwa Arbeitnehmer, übertragbar. Ihnen wird man schwerlich die Möglichkeit der Information und der Privatautonomie (das Nicht-Kontrahieren) entgegenhalten können, läuft doch die Hinweisfunktion des ausländischen Rechtsformzusatzes ihnen gegenüber leer. Eine gewisse Mindestsicherung bietet für bestimmte Gesellschaftsformen die Kapitalrichtlinie67Zweite Richtlinie 77/91/EWG vom 13. 12. 1976, ABlEG Nr. L 26, S. 1; auch abgedruckt bei: Habersack (Fn. 31), Rdnr. 206., wenngleich die Aussage des EuGH gerade vor dem Hintergrund der mit dieser Richtlinie zum Ausdruck gekommenen Konzentration auf ein Mindestkapital (und damit dem klassisch kontinental-europäischen Verständnis von Gläubigerschutz) Verwunderung hervorruft. Inwieweit, vor dem Hintergrund der in Überseering angedeuteten Möglichkeit68EuGH, Urteil vom 5. 11. 2002 - Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919 = RIW 2002, 945 = BB 2002, 2402 = NJW 2002, 3614 - Überseering, Rdnr. 92., daneben noch Raum für eine Sonderanknüpfung bleibt, wird man unter Berücksichtigung der Schutzmechanismen des Gründungsstatuts, die auch deliktischen Gläubigern ohnehin zur Verfügung stehen, neu austarieren müssen69Siehe dazu auch unten IV. 2.. Dabei wird zu beachten sein, dass zuvörderst der Schutz eingreift, den das Gründungsrecht der Gesellschaft Gläubigern anheim stellt. Nur soweit sich danach Schutzlücken ergeben, könnte inländisches Recht im Einzelfall überhaupt noch zur Anwendung kommen. Allerdings wird auch hier zu diskutieren sein, ob bestehende Schutzlücken im Mitgliedstaat des Gründungsstatuts nicht sogar hingenommen werden müssen.Jedenfalls stellen durch Sonderanknüpfung in Ansatz gebrachte Vorschriften über Mindestkapital und Haftung der Geschäftsführer - und insoweit ist dem EuGH zuzustimmen - kein mit der Niederlassungsfreiheit vereinbares Schutzinstrument dar70So auch Schulz/Sester,EWS 2002, 545, 551; Ziemons, ZIP 2003, 1913, 1916; siehe auch Schlussanträge GA Alber vom 30. 1. 2003 - Rs. C-167/01 - Inspire Art, Rdnr. 141 ff.. Der Blick ins Ausland zeigt, dass auch Gesellschaftsrechtsordnungen ohne Mindestkapitalvorschriften die Gläubiger nicht schutzlos stellen, sondern ihnen etwa durch Gründerhaftung, Treuepflichtenkonzepte und Haftungsdurchgriff vergleichbare Schutzmechanismen bieten71Vgl. dazu zutreffend Ulmer, JZ 1999, 662, 664.. Mag man an den Mindestkapitalvorschriften national festhalten oder nicht - eine Anwendung auf ausländische Unternehmen ist unter dem Aspekt des Gläubigerschutzes nicht zu rechtfertigen72Siehe dazu auch Report of the High Level Group of Company Law Experts on a Modern Regulatory Framework for Company Law in Europe vom 4. 11. 2002, S. 82 ff., insb. S. 87, abrufbar unter: www.europa.eu.int, der den Mindestkapitalvorschriften weitestgehend die gläubigerschützende Funktion abspricht. Für eine Abschaffung auch Meilicke, GmbHR 2003, 793, 808; a. A. Bayer, BB 2003, 2357, 2364..b) RechtsmissbrauchKurz und knapp geht der EuGH dann auf die Bekämpfung missbräuchlicher Ausnutzung der Niederlassungsfreiheit als Rechtfertigung ein. Nochmals weist er darauf hin, dass es sich - wie bereits in Centros73EuGH, Urteil vom 9. 3. 1999 - Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459 = ZIP 1999, 438 = NJW 1999, 2027 = NZG 1999, 298 = DB 1999, 625 = AG 1999, 226 - Centros, Rdnr. 27, 29. festgestellt - bei der Gründung einer Gesellschaft in einem Mitgliedstaat zu dem Zweck, anschließend die geschäftlichen Aktivitäten ausschließlich oder fast ausschließlich in einem anderen Mitgliedstaat auszuüben und so die als beschränkender empfundenen gesellschaftsrechtlichen Vorschriften dieses Niederlassungsstaates zu umgehen, nicht um missbräuchliches oder betrügerisches Verhalten handelt74Allgemein zu Missbrauch und Umgehung Koenig/Haratsch, Europarecht, 3. Aufl. 2000, Rdnr. 569; Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, Rdnr. 1586. Zu den Schwierigkeiten beim Missbrauchsnachweis und den Umgehungsmöglichkeiten Mankowski, ZVglRWiss 100 (2001), 137, 159 ff.; Bodewig, GRUR Int. 2000, 475, 481 f., sondern vielmehr um die Ausübung der Niederlassungsfreiheit75EuGH, Urteil vom 30. 9. 2003 - Rs. C-167/01, RIW 2003, 957 (in diesem Heft) = ZIP 2003, 1885 = BB 2002, 2402 - Inspire Art, Rdnr. 138 f..Dies entspricht auf den ersten Blick der gängigen Rechtsprechung des EuGH76Siehe insb. das Centros-Urteil, EuGH, Urteil vom 9. 3. 1999 - Rs.C-212/97Slg. 1999, I-1459 m. kritischer Anm. Kindler, NJW 1999, 1993 ff.; nicht damit zu verwechseln ist hingegen die Anerkennung eines allgemeinen Missbrauchsverbots gegenüber der Geltendmachung von Rechten aus Richtlinien etc.; ausführlich zu dem bislang vom EuGH (etwa in EuGH, Urteil vom 12. 5. 1998 - Rs. C-367/96 - Kefalas u. a./Griechenland u. a., Slg. 1995, I-2843 [2862]) nicht eindeutig anerkanntem Missbrauchsverbot Ranieri, ZEuP 2001, 165 ff. m. w. N.; siehe auch Zimmermann, Das Rechtsmissbrauchsverbot im Recht der Europäischen Gemeinschaften, 2002.. Doch noch in der Agostini-Entscheidung zur Niederlassungsfreiheit betonte das Gericht, dass ein Mitgliedstaat gegen einen Diensteanbieter mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat dann Maßnahmen ergreifen darf, wenn dessen Tätigkeit allein auf den ersten Mitgliedstaat ausgerichtet ist und die Niederlassung nur zu Umgehungszwecken gewählt wurde - etwas, was offenbar jetzt nach dem Willen des EuGH noch restriktiver gehandhabt werden soll77EuGH, Urteil vom 9. 7. 1997 - Rs. C-34, C-35 u. C-36/97 - Konsumentombudsmannen/De Agostini (Svenska) AB u. TV-Shop i Sverige AB, Slg. 1997, I-3843, 3887; ähnlich EFTA-Gerichtshof, Urteil vom 16. 6. 1995 - Rs. E-8/94 u. E-9/94 - FO/Mattel und Lego Norde, GRUR Int. 1996, 52, 55 f., Rdnr. 46 ff., 48.. Allerdings ist dieser Grundsatz so eindeutig nicht: Denn etwa in der TV10-Entscheidung ging der EuGH für einen auf die Niederlande ausstrahlenden Sender in Luxemburg von einem Rechtsmissbrauch der Wahl des Niederlassungsstaates aus78EuGH, Urteil vom 5. 10. 1994 - Rs. C-23/93 - TV 10 SA, GRUR Int. 1995, 147, 149.. Unter welchen Voraussetzungen daher von einem Missbrauch ausgegangen werden kann, ist nach wie vor nur schwer einzuschätzen, wobei - wie dargelegt - der EuGH die Messlatte hierfür hoch hängt79Bestärkend Leible/Hoffmann, EuZW Heft 22/2003 (erscheint demnächst), unter IV.1..IV. Würdigung1. Inspire Art als (letztes) Glied zum HerkunftslandprinzipWas Überseering auf den Weg brachte, führt Inspire Art konsequent fort. So verankerte Überseering noch die Gründungstheorie nur für die Rechts- und Parteifähigkeit als Kollisionsnorm in den Art. 43 und 48 EG. Eine weiterreichende Anwendung ließ sich hingegen in der zurückhaltenden Formulierung des EuGH, demzufolge nicht auszuschließen sei, dass unter bestimmten Umständen und unter bestimmten Vo-raussetzungen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit gerechtfertigt sein könnten, nur vermuten80Auf den restriktiven Wortlaut hinweisend Eidenmüller, JZ 2003, 526, 529; Leible/HoffmannZIP 2003, 925, 926 Fn. 16; Merkt, RIW 2003, 458, 460..In der Entscheidung Inspire Art dehnt der Gerichtshof nunmehr deutlich den Anwendungsbereich des Gründungsstatus aus, das nicht nur im Hinblick auf die Rechts- und Parteifähigkeit maßgebliches Anknüpfungsmoment ist81Siehe EuGH, Urteil vom 30. 9. 2003 - Rs. C-167/01, RIW 2003, 957 (in diesem Heft) = ZIP 2003, 1885 = BB 2002, 2402 - Inspire Art, Rdnr. 135 ff.. Zur Anwendung für (fast) alle bislang unter das Gesellschaftsstatut rubrizierten Fragen ist grundsätzlich dasjenige des Gründungsstaats berufen. Damit hat der EuGH für den Zuzugsfall von EU-Gesellschaften de facto ein Herkunftslandprinzip errichtet, was in fataler Weise an andere Rechtsgebiete erinnert, in denen ein Herkunftslandprinzip ohne echte Binnenmarktharmonisierung - das an sich sonst Voraussetzung für ein Herkunftslandprinzip ist - regiert82Zum Herkunftslandprinzip in der E-Commerce-Richtlinie eingehend Spindler, RabelsZ 66 (2002), 633 m. w. N.; übergreifende Parallelen ebenfalls ziehend Grundmann, RabelsZ 67 (2003), 246.. In logischer Konsequenz stellt jede davon abweichende Regelung, die eine Gesellschaft neben denen des Gründungsrechts beachten muss, eine grundsätzlich nicht zu rechtfertigende Behinderung der Niederlassungsfreiheit dar83EuGH, Urteil vom 30. 9. 2003 - Rs. C-167/01, RIW 2003, 957 (in diesem Heft) = ZIP 2003, 1885 - Inspire Art, Rdnr. 101..Allerdings werden damit neue Fragen aufgeworfen, die hier nur skizziert werden können: So ist nach wie vor offen, wie sich diese offenbar rigide Durchsetzung des Gründungsstatuts mit den in anderen Bereichen akzeptierten Beschränkungen der Grundfreiheiten verträgt. So entspinnt sich im Bereich der Kapitalverkehrsfreiheit derzeit im Lichte der Golden Shares-Rechtsprechung des EuGH die Diskussion, ob und unter welchen Voraussetzungen nationale gesellschaftsrechtliche Normen nicht als »Investitionsmodalitäten« begriffen werden können, die in Analogie zur Rechtsprechung zu den Verkaufsmodalitäten im Bereich der Warenverkehrsfreiheit84EuGH, Urteil vom 24. 11. 1993 - Rs. C-268/91, Slg. 1993, I-6097 - Keck & Mithouard = NJW 1994, 121; siehe auch EuGH, Urteile vom 10. 5. 1995 - Rs. C-384/93, Slg. 1995, I-1141 - Alpine Investments; 11.4.2000 - Rs. C-191/97, Slg. 2000, I-2549 - Deliège; dagegen zurückhaltender EuGH, Urteil vom 13. 6. 2002 - Rs. C-430/99, Slg. 2002, I-5235 - Sea-Land Service. nicht doch von den rigiden Anforderungen an die Rechtfertigung von Beschränkungen der Grundverkehrsfreiheiten ausgenommen sind. In gleicher Weise wäre zu fragen, ob angesichts der sich überschneidenden Bereiche von Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit nicht auch für ausländische Gesellschaften »inländische Betriebsmodalitäten« gelten, die etwa auf ein annähernd gleiches Niveau des Gläubigerschutzes hinauslaufen könnten. Anderenfalls müsste in konsequenter Fortsetzung der Gedankengänge des EuGH und in Zusammenführung von Inspire Art einerseits und Golden Shares-Rechtsprechung andererseits auch der nationale Gläubigerschutz qua Mindestkapital als »chilling effect« für ausländische Investoren85Zu diesem Kriterium im Rahmen der Golden Shares-Rspr. Spindler, RIW 2003, 580; Grundmann/Möslein, ZGR 2003, 317. angesehen werden, dem keine zwingende Rechtfertigung zur Seite stehen würde.2. Auswirkungen außerhalb des GesellschaftsrechtsMit der erheblichen Ausweitung des Gründungsstatuts durch den EuGH rückt die Frage vollends in den Vordergrund, welche Normen und Ansprüche dem Gesellschaftsstatut bzw. der Niederlassungsfreiheit zugeordnet werden können und welche trotz Inspire Art gesondert angeknüpft werden können. Insbesondere die Möglichkeiten, Geschäftsführer und Gesellschafter unterkapitalisierter Gesellschaften ausländischer Rechtsform unter dem Aspekt des Deliktsrechts einem weiterhin inländischen (Art. 40 EGBGB) Haftungskanon zu unterstellen, sind hier von Interesse86So jetzt auch Bayer, BB 2003, 2357, 2364., zumal auch die geplante europäische Verordnung zu den außergesetzlichen Schuldverhältnissen diesen Prinzipien offenbar folgen wird87Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (»ROM II«) vom 22. 7. 2003, KOM(2003) 427 endg.; abrufbar unter: www.europa.eu.int.; siehe auch Stellungnahme Hamburg Group of Private International Law, RabelsZ 67 (2003), 1 ff.; sowie Benecke, RIW 2003, 830.. Insbesondere wird es darauf ankommen, Haftungsfiguren eindeutig zu qualifizieren und somit als gesellschaftsrechtlich und damit dem Gründungsrecht unterfallend oder aber als deliktisch und daher den Anwendungsbereich inländischen Rechts eröffnend einzuordnen88So jetzt auch Meilicke, GmbHR 2003, 1271, 1272.. Jedoch wäre es müßig, aus der Intention das tradierte und bekannte deutsche Recht weitestgehend zu erhalten, nunmehr Qualifizierungen vor dem Hintergrund von Inspire Art gleichsam ergebnisorientiert unter Aufgabe einer stringenten dogmatischen Rückbegründung vorzunehmen. Da auch diese sich an der Niederlassungsfreiheit würden messen lassen müssen, wäre es angesichts des Gewichts und des Ausmaßes, welches der EuGH der Niederlassungsfreiheit zuspricht, einzig eine Frage der Zeit, wann eine darauf aufbauende Haftungsfigur ein ähnliches Schicksal wie die Sitztheorie oder die WFBV ereilen würde. Auch für die heftig umstrittene deutsche unternehmensbezogene Mitbestimmung müssen neue Wege überlegt werden89Zu den mitbestimmungsrechtlichen Auswirkungen siehe auch Müller-Bonanni, GmbHR 2003, 1235, 1237 ff.; tendenziell abweichend Bayer, BB 2003, 2357, 2365.., die etwa an eine Erweiterung der Betriebsverfassung durch Verhandlung in Ausnutzung und Ausdehnung der Spielräume des BetrVG anknüpfen können. Die Einzelheiten, auch hinsichtlich der damit tangierten anderen Bereiche, wie des Strafrechts (Insolvenzantragsdelikte), müssen einer gesonderten Untersuchung vorbehalten bleiben90Siehe dazu Spindler/Berner, RIW 2004, erscheint demnächst..V. Ausblick1. Europäischer BinnenmarktDurch Inspire Art ist der Wettbewerb der Rechtsordnungen gerade auch für Deutschland und sein filigran ausdifferenziertes Gesellschaftsrecht weiter angeheizt. Das damit befürchtete »race to the bottom« wird nach Ansicht der Verf. jedoch nicht in der oftmals befürchteten Schärfe eintreten: Zum einen steigt der politische Druck zur Harmonisierung, wenn Gesellschaftsformen aus Rechtsordnungen dominieren, die aus Rechtsordnungen stammen, die der Rechtstradition einer großen (kontinentaleuropäischen) Mehrheit zuwiderlaufen. Die Empfehlungen der High Level Experts Group und der Aktionsplan der Kommission sind ein erstes Zeichen in diese Richtung. Zum anderen ist die Gefahr so genannter »Billig-Gesellschaften« tatsächlich auf den Sektor der Gläubiger beschränkt, die sich nicht gegen derartige Gesellschaften wehren können - gerade aber hier können besondere Anforderungen angreifen, die nicht spezifisch auf ausländische Gesellschaften bezogen sind, sondern auch andere eigenkapitalschwache Rechtsformen einbeziehen können. Entsprechende Trends in der Rechtsprechung zur Inan-spruchnahme von Organen oder Gesellschaftern sind unübersehbar - und nicht unbedingt auf die jeweilige Rechtsform beschränkt. Für börsennotierte Gesellschaften wird der Wettbewerb der Rechtsordnungen kaum Anlass bieten, in Rechtsordnungen auszuweichen, die laxere Gläubiger- und Anlegerschutzstandards vorsehen, da über die Börse entsprechende Bemühungen schnell bestraft werden.Für deutsche Gesellschaften ist der Zugang zu diesem Wettbewerb indes (noch) verschlossen. Ihnen sollte daher die Möglichkeit gegeben werden, sich über die Grenze hinweg niederzulassen ohne sie - auch wenn dies vor dem weiterbestehenden Diktum von Daily Mail möglich erscheint91Zu Einschränkungen der Aussagen von Daily Mail, die sich bereits aus Überseering ergeben könnten, siehe Ebke, JZ 2003, 927, 932; aber auch Leible/Hoffmann, EuZW Heft 22/2003 (erscheint demnächst) unter IV.3.; sowie Bayer, BB 2003, 2357, 2363. - durch Zwangsauflösung und -liquidation92So die (noch) h. M. seit RG, urteil vom 5. 6. 1882 - RepI 291/82, RGZ, 7, 68: BGH, Urteil vom 11. 7. 1957 - II ZR 318/55, BGHZ 25, 134; OLG Hamm, Beschluss vom 1. 2. 2001 - 15 W 390/00, NJW 2001, 2183; BayObLG, Beschluss vom 7. 5. 1992 - 3 Z BR 14/92, WM 1992, 1371; OLG Hamm, Beschluss vom 30. 4. 1997 - 15 W 91/97, ZIP 1997, 1696; Schwarz, NZG 2001, 613; Scholz/Westermann, GmbHG, 9. Aufl. 2000, Einl. Rdnr. 124; Roth/Altmeppen, GmbHG, 4. Aufl. 2003, § 4 a Rdnr. 24; grundsätzlich zustimmend, jedoch bei einer Sitzverlegung innerhalb der EU zurückhaltender Staudinger/Großfeld (Fn. 9), Internationales Gesellschaftsrecht, Rdnr. 617, 677. an der Grenze gleichsam »totzuschlagen«93So pointiert Lutter, BB 2003, 7, 10.. Begrüßenswerte Bewegung könnte94Darauf weisen Kleinert/Probst, DB 2003, 2217, 2218, zutreffend hin. indes ein weiteres anhängiges Verfahren95Rs. C-09/02 - Lasteyre Du Saillant; siehe dazu die Schlussanträge des GA Mischo vom 13. 3. 2003 - Rs. C-09/02; abrufbar unter: www.curia.eu.int. bringen, welches die französische Wegzugsbesteuerung zum Gegenstand hat. Neben der Möglichkeit des EuGH, erneut zu seinen Aussagen im Daily Mail-Urteil bezüglich der Wegzugsfälle zumindest mittelbar Stellung zu nehmen und diese zu relativieren, könnte durch das mit diesem Urteil verknüpfte Schicksal der §§ 11, 12 KStG ein bis dato über den wegzugswilligen Gesellschaften schwebendes Damoklesschwert der deutschen »Wegzugsbehinderung« fallen. Dies ist indes keinesfalls sicher, hatte der EuGH doch gerade in Überseering und Inspire Art noch einmal die Aussagen von Daily Mail bestätigt96EuGH, Urteil vom 5. 11. 2002 - Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919 = RIW 2002, 945 = BB 2002, 2402 = NJW 2002, 3614 - Überseering, Rdnr. 62..Insgesamt ist der deutsche Gesetzgeber und das deutsche Gesellschaftsrecht mit einer Art Paradigmenwechsel konfrontiert, der an die in den 20er-Jahren geführte Diskussion um die Herausbildung eines Konzernrechts entweder in den Spuren des Gesellschaftsrechts oder auf der Grundlage des allgemeinen Zivilrechts erinnert97Zu nennen ist vor allem Kronstein, Die abhängige juristische Person, 1931, passim; näher zur Entwicklung Emmerich/Sonnenschein/Habersack, Konzernrecht, 7. Aufl. 2001, S. 3 ff.; Spindler, Recht und Konzern, 1993, S. 75 ff., je m. w. N.. Es ist nicht auszuschließen, dass wir die Rückkehr zu allgemeinen zivilrechtlichen Kriterien und die Zurückschneidung gesellschaftsrechtlicher Institutionen erleben werden.2. Außereuropäische AuswirkungenNeben der Bedeutung der Niederlassungsfreiheit für Gesellschaften, die nach dem Recht eines EU-Mitgliedstaates gegründet wurden, und dem dadurch eröffneten Wettbewerb innerhalb der Gemeinschaft hat eine so verstandene Gewährleistung freier Niederlassung eine über die Grenzen der Mitgliedstaaten hinausreichende Ausstrahlung. So hat bereits der BGH98BGH, Urteil vom 29. 1. 2003 - VIII ZR 155/02, RIW 2003, 473 = ZIP 2003, 720 = DB 2003, 818, mit Anm. Bungert, DB 2003, 1043. entschieden, dass im Verhältnis zu US-amerikanischen Gesellschaften ebenfalls die Gründungstheorie maßgebliche Kollisionsnorm ist. Zwar begründet der VIII. Senat sein Ergebnis damit, dass unabhängig von der im deutschen internationalen Gesellschaftsrecht sonst geltenden Anknüpfung die Gründungstheorie in Art. XXV Abs. 5 S. 2 des deutsch-amerikanischen Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrags99Deutsch-amerikanischer Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrag vom 29. 10. 1954, BGBl. II 1956, 487. verankert sei und so eine vom allgemeinen deutschen Gesellschaftskollisionsrecht losgelöste Bestimmung vorsieht. Indes ist es unübersehbar, dass Hintergrund der Entscheidung auch Überseering war, worauf der Senat auch ergänzend Bezug nimmt. Deutlicher wurde hingegen der BFH100BFH, Urteil vom 29. 1. 2003 - I R 6/99, RIW 2003, 627 = BB 2003, 1210. in seiner Entscheidung vom selben Tag. Die Aufgabe der Sitztheorie im Steuerrecht begründete er damit, dass sich »die noch in dem vorgenannten Senatsbeschluss vertretene anderweitige Auffassung [...] in Anbetracht der zwischenzeitlichen Rechtsentwicklung nicht aufrechterhalten [lässt], nachdem der EuGH durch Urteil vom 5. 11. 2002 'Überseering' in der so genannten Sitztheorie bei Zuzugsfällen eine Verletzung der Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 43 und 48 EGV gesehen hat.«101BFH, Urteil vom 29. 1. 2003 - I R 6/99, RIW 2003, 627, 628 = BB 2003, 1210, 1211. Zwar wirke sich dies nur auf Mitgliedstaaten aus und juristische Personen anderer (Dritt-)Staaten könnten sich nicht darauf berufen. »Wegen des in Art. 24 Abs. 4 DBAUSA 1989 enthaltenen Diskriminierungsverbots verhält es sich für eine US-Kapitalgemeinschaft jedoch anders.«102BFH, Urteil vom 29. 1. 2003 - I R 6/99, RIW 2003, 627, 628 = BB 2003, 1210, 1211.Sowohl BGH als auch BFH haben damit die Sitztheorie weiter zurückgedrängt. Für Zuzugsfälle ist, sofern völkerrechtliche Abkommen mit Verpflichtung zur Inländerbehandlung, Meistbegünstigung und Niederlassungsfreiheit oder anderweitigem Diskriminierungsschutz vorhanden sind, die Gründungstheorie anzuwenden103Siehe auch Sedemund, BB 2003, 1362, 1364; Ebke, JZ 2003, 927, 930.. Einzig im Verhältnis zu Drittstaaten ohne entsprechenden Abkommensschutz bleibt die Anwendung der Sitztheorie denkbar104Für Anwendung der Gründungstheorie auch im Verhältnis zu Drittstaaten plädieren Eidenmüller, JZ 2003, 526, 528; Leible/Hoffmann, ZIP 2003, 925, 930; dies., RIW 2002, 925, 935; Behrens, IPRax 2003, 193, 206, wohingegen Ebke, JZ 2003, 927, 930, »durchaus Gründe dafür« sieht, »an der Sitztheorie festzuhalten«; ebenso Bayer, BB 2003, 2357, 2364..VI. FazitWie auch die vorigen Entscheidungen, klärt Inspire Art einige Fragen, lässt aber noch diverse unbeantwortet. Indes wird man sich, solange keine Harmonisierung des internationalen Gesellschaftsrechts erreicht ist, daran gewöhnen müssen, dass der EuGH diese durch eine Einzeljurisdiktion Stück für Stück vorantreibt. Der Druck auf die Mitgliedstaaten, eine Rechtsangleichung zu forcieren, ist dadurch abermals gewachsen.Festzuhalten bleibt nach Inspire Art jedenfalls:1. Die Art. 43 und 48 EG erfordern eine einheitliche Anwendung der Gründungstheorie. Gesellschaftsrechtliche Fragen richten sich daher grundsätzlich nach dem Recht des Gründungsstatuts, wodurch der Wettbewerb der Gesellschaftsrechtsordnungen vollends eröffnet ist.2. Für den Schutz des Rechtsverkehrs wird es wichtig sein, zum einen die durch das Gesellschaftsstatut des Gründungsstaats gegebenen Möglichkeiten näher auszuloten. Zum anderen kommt der Qualifikation von Rechtsinstituten immense Bedeutung zu. So wären deliktische Haftungsfiguren auch nach Inspire Art anwendbar (Art. 40 EGBGB). Gleichwohl müssen auch sie mit der Niederlassungsfreiheit vereinbar sein.3. Das mit Inspire Art verbundene Dogma der Gründungstheorie hat mittels völkerrechtlicher Verträge über die Grenzen des Europäischen Wirtschaftsraums hinweg Auswirkung. Eine Anwendung der Sitztheorie bleibt daher allenfalls im Verhältnis zu Drittstaaten denkbar, mit denen keine entsprechenden Abkommen bestehen.4. Auch wenn Inspire Art dem Wettbewerb der Rechtsordnungen zusätzlichen Antrieb verschaffte, findet dieser zurzeit noch ohne die deutsche statt. Es bleibt zu hoffen, dass sich das deutsche Verständnis einer durch Inspire Art weiter konkretisierten Niederlassungsfreiheit nicht weiter nur auf Zuzugsfälle beschränkt und auch deutsche Gesellschaften sich durch die konsequente Anwendung der Gründungstheorie bzw. Einbeziehung der Wegzugsfälle frei im Ausland niederlassen können.

06.12.2003
: Fällt eine weitere Beschränkung des europarechtlichen Legal Privilege?

I. EinleitungMit der Entscheidung »AM&S« vom 18. 5. 1982 hat der EuGH erstmals das Recht zur Verweigerung der Herausgabe bzw. das Beschlagnahmeverbot von Anwaltskorrespondenz im europäischen Verfahrensrecht (»Legal Privilege«) statuiert1EuGH, Slg. 1982, 1575 = WuW/E EWG/MUV, 575 = AnwBl. 1982, 525 = EuR 1983, 40 = NJW 1983, 503 - AM&S. Besprochen wurde das Urteil u.a. von Fischer/Iliopoulos, NJW 1983, 1031; Beutler, RIW 1982, 820; Steinebach, AnwBl. 1982, 527; Hüchting, AnwBl. 1982, 476; Mattfeld, EuR 1983, 47; Boyd, European Law Review (E.L.Rev.) 1982, 493; Goffin, Cahiers de droit européen (Cah. Dr. Europ.) 1982, 391; Usher, The Journal of Business Law 1982, 398, 399; Dolmanns/Eichler/Müller-Ibold, AnwBl. 1999, 493.. Für dieses Legal Privilege kommt es darauf an, dass der Schriftverkehr im Rahmen und im Interesse des Rechts des Mandanten auf Verteidigung und von unabhängigen Rechtsanwälten2Im Gegensatz zum »Legal Privilege« im angelsächsischen Recht hat der EuGH den Schriftwechsel mit Syndikus-Anwälten als nicht privilegiert angesehen, was vielfach kritisiert wurde, vgl. z. B. Fischer/Iliopoulus, NJW 1983, 1031, 1034; Boyd, E.L.Rev. 1982, 493; Dolmans/Eichler/Müller-Ibold, AnwBl. 1999, 493; Langen/Bunte, Kartellrecht, 9. Aufl. 2001, Einführung zum EG-Kartellrecht, Rdnr. 215; Roth, European Lawyer 2001, 20; Eichler/Peukert, AnwBl. 2002, 189. Der EuGH sprach daher im englischen Urteilstext stattdessen auch von »protection of confidentiality«. Die Diskriminierung der Syndikus-Anwälte wird im Rahmen der geplanten dezentralen Anwendung des EG-Kartellrechts weitere Probleme aufwerfen, vgl. Zinsmeister/Lienemeyer, WuW 2002, 331, 336. geführt wird3EuGH, Slg. 1982, 1575 Rdnr. 21 - AM&S.. Unwesentlich ist, ob die Ermittlungsbehörde die Korrespondenz beim Anwalt oder beim Mandanten vorfindet4Anders als etwa im deutschen Recht (§ 97 Abs. 2 S. 1 StPO) ist damit Korrespondenz auch dann geschützt, wenn sie sich im Gewahrsam des Unternehmens befindet. Zum Gewahrsamsproblem vgl. Kapp/Roth, ZRP 2003, 404. In der AM&S-Entscheidung ging es um Unterlagen im Gewahrsam des Unternehmens. Ausdrückliche Feststellungen zur Gewahrsamsfrage enthält das Urteil zwar nicht, jedoch geht die EuGH-Entscheidung offenbar vom Bestand des Legal Privilege bei Anwaltskorrespondenz im Gewahrsam des Unternehmens aus, da sonst die Ausführungen zum Legal Privilege keine sinnvolle Grundlage hätten; vgl. auch die Schlussanträge von Generalanwalt Slynn, EuGH, Slg. 1982, 1575, 1654 f. - AM&S, und Gillmeister, Ermittlungsrechte im deutschen und europäischen Kartellordnungswidrigkeitenverfahren, 1985, S. 216..Der Gerichtshof beschränkt den Schutz nicht auf den Schriftverkehr, der nach Eröffnung eines Verfahrens geführt worden ist; erfasst wird auch ein früherer Schriftwechsel, sofern er mit dem Gegenstand des Verfahrens in »Zusammenhang« steht5EuGH, Slg. 1982, 1575 Rdnr. 23 - AM&S; bestätigt durch EuG, Slg. II 1990, 163, 170 - Hilti.. In der englischen Originalfassung des Urteils heißt es hierzu:»It must also be possible to extend it [the protection - Erläuterung durch Verf.] to earlier written communications which have a relationship to the subject-matter of that procedure.«6AM&S Europe Limited v. Commission of the European Communities [1982] ECR 1575, 1611.In der Praxis kommt es immer wieder vor, dass sich Streit darüber ergibt, ob Anwaltskorrespondenz mit einem kartellrechtlichen Ermittlungsverfahren in dem vom EuGH vorgegebenen »Zusammenhang« steht - ein Streit, der durch die damit verbundene Reichweite eines Beschlagnahmeverbotes den Ausgang eines gerichtlichen Verfahrens bestimmen kann. Leider hat der EuGH seit 1982 keine Präzisierung des von ihm statuierten »Zusammenhangs« vorgenommen und dadurch für die nationalen Gerichte wie die Literatur einen weiten Rahmen der Interpretation eröffnet. Die folgenden Ausführungen werden diesen Interpretationsspielraum näher analysieren. Im Ergebnis wird gefordert werden, das Kriterium des »Zusammenhangs« ganz fallen zu lassen.II. Die Auslegung des Begriffs des »Zusammenhangs«1. LG BonnEin gutes Beispiel für die Interpretationsfähigkeit der AM&S-Entscheidung bietet der jüngst ergangene Beschluss des LG Bonn vom 27. 3. 20027LG Bonn, Beschluss vom 27. 3. 2002 - 37 Qs 91/01, WuW/E DE-R, 917 (nur teilweise veröffentlicht).. In diesem Beschluss heißt es:»Denn auch der EuGH hat nicht sämtliche Anwaltskorrespondenz für gesperrt erklärt, sondern nur jene, die im Zusammenhang mit dem Verfahren steht. Der Gerichtshof vermeidet lediglich den zeitlichen Schnitt der Mandatierung für ein bereits eingeleitetes Verfahren.«8LG Bonn, WuW/E DE-R 917, 918.Das LG Bonn sah den streitgegenständlichen Schriftwechsel in concreto allerdings nicht vom Beschlagnahmeverbot erfasst, da es in ihm nicht »um eine vorbeugende oder nachträgliche Prüfung jenes Verhaltens eines angeblich abgesprochenen Boykottaufrufs, wie es Gegenstand des Vorwurfs im Ermittlungsverfahren« war, ging9LG Bonn, WuW/E DE-R 917, 918.. Gegenstand des Verfahrens war der Vorwurf, DSD unter anderem hätten andere Unternehmen dazu aufgerufen, die Lizenzierung der Entsorgung von Verkaufsverpackungen nicht über alternative Entsorgungssysteme, sondern wie bisher ausschließlich über DSD vorzunehmen. Als nicht privilegiert hat das LG Bonn daher sowohl Korrespondenz angesehen, bei der es um ein parallel laufendes verwaltungsgerichtliches Verfahren oder um sonstige verwaltungsrechtliche Verhaltensabklärungen gegenüber Ministerien und Landkreisen zur Anerkennung alternativer Entsorgungssysteme ging, als auch Schriftsätze, welche die Prüfung der Erfolgsaussichten einer Klage gegen eine EG-rechtliche Freistellungsentscheidung der Kommission zum Gegenstand hatten, wobei die Kommissionsentscheidung in keinem direkten Bezug zum Bußgeldverfahren stand10LG Bonn, Beschluss vom 27. 3. 2002 - 37 Qs 91/01, S. 4 der Originalentscheidung (unveröffentlichter Teil).. Diese vomLG Bonn vorgenommene Interpretation des »Zusammenhangs« orientiert sich am eigentlichen formalen Gegenstand des Ermittlungsverfahrens, so dass man von einer »verfahrensbezogenen Korrelation« sprechen kann11Zu diesem Begriff bereits Kapp, WuW 2003, 142, 145..2. LiteraturIn der Literatur findet sich bezüglich des vom EuGH geforderten »Zusammenhangs« zwischen Anwaltskorrespondenz und Gegenstand des Verfahrens die Aussage, dass es sich dabei nicht um einen direkten Zusammenhang handeln muss; vom Vertraulichkeitsschutz werden z.B. auch Schriftstücke erfasst, welche die Einschätzung der Vereinbarkeit bestimmter Entwürfe oder Verhaltensweisen mit dem Kartellrecht, die Beurteilung der Anmeldebedürftigkeit einer Vereinbarung oder die Prognose hinsichtlich eines zu erwartenden Bußgeldrisikos betreffen12Vgl. Immenga/Mestmäcker, EG-Wettbewerbsrecht, Bd. 2, 1997, VO 17, Art. 14, Rdnr. 22; Beutler, RIW 1982, 820, 822.. Schriftwechsel mit einem solchen Inhalt, der bereits vor Eröffnung eines offiziellen Verfahrens stattgefunden hat, fällt dann ebenfalls in den Schutzbereich der Rechtsprechung des EuGH. In der englischen Literatur führt Usher zu dem Problem aus:»... documents ... which are principally concerned with avoiding conflicts between the applicant and the Community authorities with regard to competition rules, are sufficiently connected with the procedure to be protected from disclosure.«13Usher, The Journal of Business Law 1982, 398, 399.Versucht man die Interpretation der Literatur schlagwortartig zusammenzufassen, so ist der vom EuGH vorausgesetzte Zusammenhang eher als eine »inhaltlich-materielle Korrelation«14Zu diesem Begriff vgl. bereits Kapp, WuW 2003, 142, 145. zu verstehen, da die anwaltliche Beratung nicht notwendigerweise vor dem Hintergrund eines drohenden Ermittlungsverfahrens erbracht wird und auch nicht mit dem Verfahrensgegenstand des Ermittlungsverfahrens übereinstimmen muss.Es lässt sich nicht mit letzter Sicherheit sagen, ob es sich bei dem vom EuGH vorgegebenen »Zusammenhang« um eine (weitere) »inhaltlich-materielle Korrelation« oder um eine (engere) »verfahrensbezogene Korrelation« handelt. Mangels weiterer Judikatur des EuGH ist eine Konkretisierung des Begriffs des »Zusammenhangs« bisher nicht erfolgt.Für eine inhaltlich-materielle Korrelation spricht, dass der EuGH in seiner Entscheidung Korrespondenz als geschützt ansah, in der es um die Frage ging, inwieweit ein etwaiger Konflikt zwischen der Klägerin und den Gemeinschaftsbehörden über die Beurteilung der Tätigkeit der Klägerin, insbesondere nach den wettbewerbsrechtlichen Gemeinschaftsbestimmungen, vermieden werden könne15Vgl. EuGH, Slg. 1982, 1575 Rdnr. 34 - AM&S. Siehe dazu auch Kerse, EEC Antitrust Procedure, 2. Aufl. 1988, S. 246 ff.; vgl. auch Usher, The Journal of Business Law 1982, 398, 399.. Gelangt man zu dem Ergebnis, dass der EuGH von einer »inhaltlich-materiellen Korrelation« ausgeht, also jeder indirekte Zusammenhang ausreicht, so ergibt sich folgendes Paradoxon: Ist nämlich eine Beschlagnahme jeglichen Materials, das in inhaltlich-materieller Verbindung zum Verfahren steht, ausgeschlossen, muss sich die Frage stellen, welche Dokumente die Behörden dann überhaupt noch beschlagnahmen sollen. Diejenigen Dokumente, aus denen sie Information schöpfen können, stehen ihnen rechtlich nicht zur Verfügung, und diejenigen, die sie beschlagnahmen dürfen, stellen mangels inhaltlich-materieller Korrelation keinen Nutzen für die Ermittlung dar16Vgl. Kapp/Roth, ZRP 2003, 404..Will man daher den Begriff des »Zusammenhangs« ernst nehmen, so scheint die Interpretation des LG Bonn zunächst überzeugender; sie ist aber - was auszuführen sein wird - vom Ergebnis her unbefriedigend.III. Kritik an dem Erfordernis des »Zusammenhangs«Fest steht, dass der EuGH mit dem Begriff des »Zusammenhangs« Rechtsunsicherheit erzeugt hat, wie dies die unterschiedlichen Ansätze des LG Bonn und der Literatur anschaulich belegen. Dies gilt umso mehr, als im Falle der Korrespondenz im Gewahrsam des Anwalts ein vergleichbarer »Zusammenhang« nicht verlangt wird. Diese offensichtlich vorhandene Rechtsunsicherheit hat zur Konsequenz, dass die betroffenen Unternehmen nicht abschätzen können, was sie ihrem Anwalt mitteilen können, ohne Gefahr zu laufen, dass die Information - wie im Fall des LG Bonn - gegen sie verwendet wird.Um die aus der Rechtsprechung des LG Bonn resultierende Konsequenz zu verhindern, beinhaltet der angelsächsische Ansatz zum Legal Privilege einen den Vorgaben des EuGH vergleichbaren Zusammenhang nicht. In den USA wird der Sinn und Zweck des Legal Privilege darin gesehen, eine umfassende und wahrheitsgetreue Kommunikation zwischen Anwälten und ihren Mandanten zu fördern17Vgl. Upjohn Co. et al. v. United States et al., 449 U.S. 383, 389 (1981); siehe auch Fisher v. United States, 425 U.S. 391, 403 (1976).. Auch das englische Recht konstruiert das Legal Privilege möglichst weit18Vgl. nur Howard/Crane/Hochberg, Phipson on Evidence, 1990, S. 494 ff.. Dabei wird immer wieder darauf hingewiesen, dass das Rechtssystem ohne professionelle Rechtsberatung nicht funktioniert. Um Rechtsberatung effektiv durchführen zu können, wird es als unabdingbare Notwendigkeit angesehen, dass der Mandant seinem Rechtsanwalt alle Fakten offen legt, ohne dabei die Besorgnis haben zu müssen, seine Information könne gegen ihn verwendet werden19Howard/Crane/Hochberg (Fn. 18), S. 494; bei Passmore, New Law Journal 1996, Vol. 146 No. 6749, 921, findet sich dazu Folgendes: »The principle which runs through all these cases ... is that a man must be able to consult his lawyer in confidence, since otherwise he might hold back half the truth. The client must be sure that what he tells his lawyer in confidence will never be revealed without his consent. Legal professional privilege is thus much more than an ordinary rule of evidence, limited in its application to the facts of a particular case. It is a fundamental condition on which the administration of justice as a whole rests.«.Nach dem amerikanischen Recht müssen lediglich folgende Voraussetzungen gegeben sein, um von einem Legal Privilege auszugehen:- The asserted holder of the privilege is or sought to become a client.- The person to whom the communication was made is a member of the bar of a court ... and in connection with this communication is acting as a lawyer.- The communication relates to a fact of which the attorney was informed by his client ... for the purpose of securing primarily either an opinion on law or legal services or assistance in some legal proceeding and not for the purpose of committing a crime or tort.- The privilege has been claimed and not waived by the client20Vgl. U.S. v. United Shoe Machinery Corporation, 89 F. Supp. 357, 358 f. (1950). Dazu auch Rana, 32 Suffolk U. L. Rev. 687 ff. Für das mit dem U.S.-amerikanischen Recht nahezu identische englische Recht vgl. Mahoney, Common Law World Review 2001, 30 (66). Aus dem neueren britischen Recht siehe § 196 Enterprise Act 2002 (Privileged information etc.), der explizit auf das sog. »legal professional privilege« abstellt; eine Definition des Legal Privilege enthält § 30 des britischen Competition Act von 1998, darin heißt es: »Privileged communications: (1) A person shall not be required, under any provision of this Part, to produce or disclose a privileged communication. (2) 'Privileged communication' means a communication (a) between a professional legal adviser and his client, or (b) made in connection with, or in contemplation of, legal proceedings and for the purposes of those proceedings, which in proceedings in the High Court would be protected from disclosure on grounds of legal professional privilege.« - In der englischen Rspr. wurde das Legal Privilege wie folgt umschrieben: Legal professional privilege only attaches to such communications as pass between the solicitor and client which are brought into existence or occur in the course of the performance of the solicitor's professional duty or function as solicitor retained to give professional advice, as distinct from some other capacity unrelated to the giving of legal professional advice (Minter v. Priest [1930] AC 558, 581)..Zusammenfassend gilt daher das Legal Privilege für Anwaltskorrespondenz nach amerikanischem Recht immer schon dann, wenn es sich um Rechtsberatung im weitesten Sinne handelt, soweit diese nicht dazu dient, eine unerlaubte Handlung zu fördern. Auch das deutsche Recht verlangt nicht einen irgendwie gearteten Zusammenhang zwischen Verfahren und Korrespondenz, solange sich die Korrespondenz im Gewahrsam des Rechtsanwalts und nicht des Mandanten befindet (§ 97 Abs. 2 S. 1 StPO)21Insofern noch weitergehend Kapp/Roth, ZRP 2003, 404 m. w. N..In seinen Schlussanträgen zur AM&S-Entscheidung geht Generalanwalt Slynn davon ebenso aus, dass wegen des Grundsatzes der Vertraulichkeit der Mandant die Möglichkeit haben muss, frei, offen und rückhaltlos mit seinem Rechtsanwalt zu sprechen22Slynn, EuGH, Slg. 1982, 1575, 1654 f. - AM&S.. Aus diesem Grund kommt er zum Ergebnis, dass es keinen Unterschied machen kann, ob sich die vertraulichen Schriftstücke beim Anwalt oder beim Mandanten befinden23Slynn, EuGH, Slg. 1982, 1575, 1654 f. - AM&S.. Verbindet man diese Überlegung damit, dass der EuGH für den Schutz der Korrespondenz im Gewahrsam des Anwalts einen »Zusammenhang« zwischen Schriftwechsel und Gegenstand des Verfahrens nicht verlangt, so erschließt sich nicht, warum für Korrespondenz im Gewahrsam des Mandanten anderes gelten soll.Wie oben dargelegt, führt zudem das Erfordernis des »Zusammenhangs« zwischen Korrespondenz und Gegenstand des Verfahrens dazu, dass sich potenziell von einem Bußgeldverfahren Betroffene gerade nicht so früh wie möglich offen und rückhaltlos ihrem Anwalt mitteilen können24Vgl. in diesem Sinne schon Kapp/Schröder, WuW 2002, 555, 564 f.. Meint man es daher mit dem Grundsatz der Vertraulichkeit ernst, sollte man von jeglichem Erfordernis eines »Zusammenhangs« zwischen Korrespondenz und Gegenstand des Verfahrens Abstand nehmen.Möglicherweise war es aber gar nicht die Absicht des EuGH, einen wie auch immer gearteten »Zusammenhang« als materiell relevantes Kriterium im Sinne einer Einschränkung zu statuieren. Dies wird dadurch deutlich, dass sowohl die Kommission als auch die beiden Generalanwälte in ihren Schlussanträgen keinesfalls von einem »Zusammenhang« zwischen Korrespondenz und Gegenstand des Verfahrens reden, sondern nur davon, dass die Korrespondenz Rechtsberatungszwecken dient25Für die Kommission vgl. EuGH, Slg. 1982, 1575, 1588 - AM&S. Für Generalanwalt Warner vgl. EuGH, Slg. 1982, 1575, 1633, 1637 (»... die Kommission hat das Recht des untersuchten Unternehmens zu beachten, für den die Rechtsberatung betreffenden Verkehr zwischen dem Unternehmen und seinen Anwälten Vertraulichkeit zu verlangen«), ebenda S. 1638 (»..., dass in einer zivilisierten Gesellschaft jedermann darauf vertrauen darf, dass Äußerungen, die zwischen ihm und seinem Anwalt ausgetauscht werden, vor der Offenlegung geschützt sind«). Für Generalanwalt Slynn vgl. EuGH, Slg. 1982, 1575, 1662 (»Das dem Grundsatz der Vertraulichkeit zu Grunde liegende öffentliche Interesse entsteht in dem Moment, in dem die Beratung erbeten und erteilt wird, und es bleibt danach unabhängig von dem Zeitpunkt bestehen, in dem sich die Frage einer Offenlegung zum Zwecke der Nachprüfung stellt«).. Offenbar hat der EuGH durch das von ihm aufgestellte Erfordernis eines »Zusammenhangs« zwischen früherem Schriftwechsel und Gegenstand des Verfahrens mehr bewirkt als er bewirken wollte.Das Erfordernis eines »Zusammenhangs« zwischen Korrespondenz und Gegenstand des Verfahrens führt zudem dazu, dass Anwälte, abhängig davon, ob etwa das BKartA, die Europäische Kommission oder die FTC ermitteln, mit unterschiedlichen Verfahrensrechten ausgestattet sind26Ähnlich Zinsmeister/Lienemeyer, WuW 2002, 331, 337.. Ein solches Risiko trifft insbesondere international oder gar global tätige Unternehmen, welche dann mit unterschiedlichen Schutzstandards in der EU konfrontiert wären. Bei transnationalen Sachverhalten könnte es sogar geschehen, dass sich Unternehmen aus dem angelsächsischen Bereich an dem strengeren Standard der EU orientieren müssten, und zwar auch hinsichtlich des Legal Privilege im eigenen Heimatland!Dass ein »Zusammenhang« zwischen Korrespondenz und Gegenstand des Verfahrens auch de lege lata nicht mehr haltbar ist, folgt im Übrigen aus folgender Überlegung:Nach Art. 32 § 2 lit. a der Verfahrensordnung des Europäischen Gerichtshofs genießen Anwälte das Vorrecht, dass Schriftstücke und Urkunden, die sich auf das Verfahren beziehen, weder durchsucht noch beschlagnahmt werden dürfen. Dieses Privileg gilt zwar erst, wenn das Verfahren beim Gerichtshof anhängig ist. Spätestens seit der Entscheidung des EuGH in Sachen »AM&S« ist der dadurch zum Ausdruck kommende Schutz der Vertraulichkeit des Schriftverkehrs zwischen Anwalt und Mandant als ungeschriebener Rechtssatz von der Kommission schon im Verwaltungs- und Bußgeldverfahren zu berücksichtigen27Gillmeister (Fn. 4), S. 205.. Dementsprechend werden in Art. 27 Abs. 2 der neuen VO Nr. 1/2003 des Rates vom 16. 12. 200228Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. 12. 2002 zur Durchführung der in den Art. 81 und 82 des Vertrages niedergelegten Wettbewerbsregeln - vgl. ABlEG Nr. L 1, S. 1 vom 4. 1. 2003. die Verteidigungsrechte der Parteien während des Verfahrens herausgestellt. Dieser durch Art. 27 Abs. 2 der VO Nr. 1/2003 zum Ausdruck kommende Schutz wird aber lückenhaft, wenn die Verteidigungsrechte der Parteien nicht auch schon vor dem eigentlichen Verfahren von der Kommission zu berücksichtigen sind. Gerade im Kartellrecht ist oftmals eine permanente präventive Beratung von Teilnehmern des Wirtschaftsverkehrs anzutreffen, welche ohne offene Kommunikation zwischen Anwalt und Mandanten praktisch nicht durchgeführt werden kann29Siehe oben Fn. 24..Im Ergebnis sollte auch beachtet werden, dass es bei einem Verzicht auf einen »Zusammenhang« zwischen Korrespondenz und Gegenstand des Verfahrens und den damit verbundenen Einschränkungen des Beschlagnahmeverbots nicht zu unverhältnismäßigen Eingriffen in die Befugnisse der Ermittlungsbehörden kommt, wie es die Beispiele in den angelsächsischen Ländern zeigen. Der ermittelnden Behörde bleibt weiterhin die Möglichkeit, alle Akten zu be-schlagnahmen, die - frei von rechtsberatenden Ausführungen - Informationen zu dem vorgeworfenen Fehlverhalten liefern.IV. ZusammenfassungDie Untersuchung zeigt, dass das vom EuGH aufgestellte Erfordernis eines »Zusammenhangs« zwischen Anwaltskorrespondenz und Gegenstand des Verfahrens in letzter Konsequenz zu unbefriedigenden Ergebnissen führt. Entweder ist der Zusammenhang eine Leerformel oder der freie Austausch zwischen Mandanten und Anwalt wird in massiver Weise beeinträchtigt. Die Rechtsprechung des EuGH hat deutlich gemacht, dass gerade zu Gunsten eines verbesserten Vertrauensverhältnisses zwischen Anwalt und Mandanten das Legal Privilege auch dann gewährt werden soll, wenn die Anwaltskorrespondenz vor der Eröffnung des Verfahrens geführt wurde. Will man diese Zielsetzung ernst nehmen, so bleibt nur der Verzicht auf das Kriterium eines wie auch immer gearteten »Zusammenhangs« zwischen Korrespondenz und Verfahren zu Gunsten eines dem angelsächsischen Recht angeglichenen Modells des Legal Privilege.