Der VW-Abgas-Skandal
Compliance or defiance?
Auch wenn täglich neue Erkenntnisse hinzukommen – dass die als „VW-Abgas-Skandal“ bezeichnete Serie an Vorfällen im Volkswagenkonzern eine ganze Reihe von Grundsatzfragen zu Sinn und Stellenwert der Compliance im Unternehmensbereich aufwirft, zeichnet sich bereits jetzt ab.
Zur Erinnerung: Die Entwicklungen setzten mit Vorwürfen der US-Umweltschutzbehörde EPA gegenüber VW ein, wonach VW bei zahlreichen Diesel-Fahrzeugen geltende Abgasvorschriften dadurch umgangen haben soll, dass in Dieselfahrzeuge ein Abschaltgerät in Gestalt eines Software-Algorithmus eingebaut wurde, welches bewirkte, dass bei Emissionstests auf dem Rollenprüfstand weniger Abgase ausgestoßen werden als im vergleichbaren realen Betrieb auf der Straße. Die EPA erblickte darin Verstöße gegen Vorschriften des Clean Air Act. Zwischenzeitlich hat sich der Skandal auf VW-Fahrzeuge mit Benzinmotoren sowie auf Fahrzeuge anderer Marken des VW-Konzerns ausgeweitet; es sollen weltweit über 10 Mio. Fahrzeuge betroffen sein. Zur Manipulation durch Softwaretechnik kommen vorsätzliche Falschangaben zum CO2-Ausstoß und zum Verbrauch bei der Typenzulassung hinzu, die VW inzwischen ebenfalls eingeräumt hat. Wir erleben Entwicklungen, die zu einem Lehrstück der Corporate Compliance werden können:
Für die Unternehmensorganisation stellen sich Fragen der individuellen Verantwortlichkeit und des Wissensmanagements: Wer hat was veranlasst und wer wusste um diese Vorgänge bzw. konnte oder musste darum wissen? Dass bei der durch Autorität und Hierarchie geprägten Organisationsstruktur des VW-Konzerns lediglich einzelne Mitarbeiter in einzelnen Abteilungen die Verstöße begangen oder gedeckt haben, ist kaum anzunehmen. Aus Compliance-Sicht bemerkenswert ist die Reaktion des Vorstands, Hinweisgebersysteme zur Aufklärung der internen Vorgänge zu installieren; freilich wird der präventive Ansatz, auf dem die Institution des Whistleblowers gründet, dadurch nicht mehr erreicht.
Zugleich illustriert der Skandal die Bandbreite dessen, was Haftungsvermeidung als Kern des Compliance-Ansatzes bezogen auf ein und denselben Sachverhalt konkret bedeuten kann: neben umwelt- und energierechtliche Folgen vor allem vertragliche Gewährleistung, Produkthaftung, gesellschaftsinterne Haftung, produktsicherheitsrechtliche Überwachungsmaßnahmen, Strafrecht sowie Rückfragen von Beihilfen.
In grundsätzlicher Hinsicht: Wenn – wie es die Verantwortlichen bei VW getan haben – zahlreichen umwelt- und energierechtlichen Gesetzesvorgaben dermaßen hartnäckig und hinterlistig getrotzt wird („defiance“), wird das Leitbild der Regeltreue („compliance“), ungeachtet der auch im VW-Konzern vorhandenen Compliance-Beauftragten, Verhaltenskodizes und Ombudspersonen, letztlich nicht gelebt. Die zu Tage tretende Diskrepanz zwischen Sein und Schein frappiert umso mehr als VW im eigenen Nachhaltigkeitsbericht 2014 („aiming to be the world’s most environmentally compatible automaker“) eine moralische Messlatte gesetzt hat, hinter die das Unternehmen nicht nur zurückfällt, sondern deren Zielerreichung es zeitgleich aktiv hintertrieben hat.
Wenn sich Compliance als „Antwort auf das Versagen von Organisationen und Menschen“ (R. Stober) begreift, wird es nach VW einer grundlegenden Weiterentwicklung zur „Compliance 2.0“ bedürfen, die sich nicht im Austausch einzelner Köpfe und in der Umbenennung einzelner Funktionen nicht erschöpfen darf. Soll Compliance zuallererst die Etablierung einer unternehmenseigenen Compliance-Kultur bedeuten sein, bleiben nach VW Zweifel, ob gelebte Unternehmenskultur tatsächlich der Regulierung zugänglich ist.
Prof. Dr. Stefan Müller