Mythos Leitz-Ordner
Das Bürokratieentlastungsgesetz schafft neue Widersprüche bei der Aufbewahrung – aber keine Hemmnisse für Steuerfahnder.
Mit dem vom Bundestag am 26.9.2024 verabschiedeten Bürokratieentlastungsgesetz IV stehen weitgehende Änderungen bei den Aufbewahrungsfristen steuerlich relevanter Unterlagen an. Schon wird gewarnt, die Entbürokratisierung torpediere die Ermittlungsmöglichkeiten der Staatsanwaltschaft bei Steuerhinterziehung. Der Vorsitzende der Deutschen Steuer-Gewerkschaft, Florian Köbler, spricht gar von einem “Geschenk an Kriminelle”. Doch viel mehr als neue Widersprüche schafft der Gesetzgeber nicht. Steuerstraftäter, die Belege für ihr Handeln sauber in Ordnern abheften, sind nichts als ein hartnäckiger Mythos.
Schon 2009 hatte sich der Gesetzgeber systemwidrig entschieden, in § 376 AO plötzlich Verjährungsvorschriften aufzunehmen, die ins Kernstrafrecht gehören und in der AO nur Verwirrung und Rechtsunsicherheit erzeugten. Die gesamte Regelung strotzt nur so von politisch laienhafter Regelungswut, die mehr Rechtsunsicherheit als irgendeinen Ermittlungserfolg fördern könnte.
Zunächst wurde eine zehnjährige Verjährung für schwere Fälle der Steuerhinterziehung eingeführt, was schon kollidierte mit sonstigen steuerlichen und strafrechtlichen Regelungen. Im Dezember 2020 wurde das Ganze dann auf 15 Jahre erhöht, und zwar da bereits ohne Berücksichtigung der Tatsache, dass schon zu diesem Zeitpunkt weder im Steuer- noch im Handelsrecht irgendwo eine Aufbewahrungspflicht von 15 Jahren stand. Die maximale Aufbewahrungsfrist betrug schon damals nur zehn Jahre, für Handelsbriefe und andere Unterlagen nur sechs Jahre gemäß § 147 Abs. 3 AO. Man hat also eine strafrechtliche Verjährung nicht nur systemwidrig in die Abgabenordnung eingefügt, sondern die vorhersehbare Sinnlosigkeit wegen schon lange vernichteter Belege ignoriert.
Ich selbst, der ich heute seit fast 30 Jahren in Steuer- und Wirtschaftsstrafsachen verteidige, habe vermutlich genau deshalb noch keinen einzigen Fall gesehen, in dem seit 2020 über einen Zeitraum von 15 Jahren ermittelt würde. Die Staatsanwaltschaften und die Fahnder ignorieren diese Vorschrift, weil sie eben keinerlei Unterlagen mehr finden würden, was ihnen vollkommen klar ist.
Aber generell ist es doch auch nicht so, dass der wirklich kriminelle Täter seine Belege nun für Zwecke der Strafverfolgung aufhebt und ggf. auch noch sauber elektronisch archiviert. Der Zweck von derartigen Aufbewahrungspflichten für die Ermittler in Strafverfahren war vielmehr schon immer sehr eingeschränkt. Derjenige, der Steuern hinterziehen will, wird doch generell keine Belege für seine Taten aufheben oder gar nicht erst produzieren. Die in der Presse genannten Fälle der Umsatzsteuer-Karusselle etwa sind da besonders absurd. Wer als Täter an einem solchen Karussell teilnimmt, der produziert als missing trader ohnehin falsche Rechnungen und Belege, die er schnellstmöglich – ungeachtet irgendwelcher Aufbewahrungspflichten – vernichtet. Der Glaube, Aufbewahrungspflichten würden Straftäter beachten und Strafverfolger den Tatnachweis erleichtern, ist ausgesprochen naiv.
Gleiches gilt für die Steuerhinterziehung über sogenannte Cum-Ex-Geschäfte, deren Aufklärung einige Kritiker nun bedroht sehen. Dabei basierte das erste – später vom BGH bestätigte – strafrechtliche Urteil des Landgerichts Bonn wesentlich auf Geständnissen und Zeugenaussagen sowie Indizien, da die Leerverkaufsabreden selbst nicht schriftlich festgehalten worden waren.
Schließlich müssen dennoch Sinn und Zweck der jetzt mit dem BEG eingeführten verkürzten Aufbewahrungsfristen in Zweifel gezogen werden. Die Welt und natürlich auch die Wirtschaft werden zunehmend digitaler. Die jetzigen Regelungen zur Aufbewahrung im Steuer- und im Handelsrecht erlauben es bereits, Belege nur noch digital zu archivieren. Die Finanzverwaltung hat die Bedingungen dazu in den Grundsätzen zur ordnungsmäßigen Führung und Aufbewahrung von Büchern, Aufzeichnungen und Unterlagen in elektronischer Form sowie zum Datenzugriff (GoBD) niedergeschrieben. Das gilt natürlich auch für die stetig sinkende Zahl ursprünglich analoger Papierbelege, die bereits seit Jahren nach der Digitalisierung vernichtet werden. In den nächsten drei Jahren 2025 bis 2028 wird die Wirtschaft in Europa schrittweise gezwungen, nur noch digitale E-Rechnungen zu erzeugen. Ab 2028 werden dann auch alle Papierrechnungen, jedenfalls im B2B-Bereich, der Vergangenheit angehören.
Archivräume mit Ordnern voller Papierbelege sind in den letzten Jahren zunehmend seltener geworden und werden bald ganz verschwinden. Übrig bleiben Festplatten, Server oder Cloudlösungen, die jedenfalls keine Archivräume mehr füllen. Da darf man zweifeln, ob die Herabsetzung einer Aufbewahrungspflicht von zehn auf acht Jahre tatsächlich eine echte Entlastung für die Wirtschaft ist, die sich künftig nur noch in einigen Terrabyte weniger belegtem Speicher zeigen wird.
Die Strafverfolger jedenfalls wird das in keinster Weise beeinträchtigen. Denn sie mussten immer schon Nachweise für Wirtschaftsstraftaten suchen und finden, die garantiert nicht den gesetzlichen Aufbewahrungsfristen entsprechend archiviert waren.
Michael Weber-Blank, RA/FAStR/FAStrafR, NLP M., Zertifizierter Compliance Officer, Wirtschaftsmediator, ist Partner der Wirtschaftskanzlei BRANDI Rechtsanwälte in Hannover. Er berät und vertritt Unternehmen im Steuerstrafrecht und Wirtschaftsstrafrecht.