Keine Einkommensteuerentlastung in Sicht
Entgegen den Wahlankündigungen und Erwartungen der Steuerbürger enthält der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 7.2.2018 mit dem Titel “Ein neuer Aufbruch für Europa – Eine neue Dynamik für Deutschland – Ein neuer Zusammenhalt für unser Land” keine Anhaltspunkte für Einkommensteuerentlastungen. Bei einem Umfang des Vertragswerkes von 176 Seiten überrascht das den Bürger sehr. In Kap. V. “Gute Arbeit, breite Entlastung und soziale Teilhabe sichern” wird im Unterkapitel 2. “Entlastung für Bürgerinnen und Bürger bei Steuern und Sozialabgaben” (S. 53 f.) lediglich eine Absichtserklärung abgegeben, die da lautet: “Wir werden insbesondere untere und mittlere Einkommen beim Solidaritätszuschlag entlasten.” (Rn. 2435 f.). Weiter wird hierzu ausgeführt: “Wir werden den Solidaritätszuschlag schrittweise abschaffen und ab dem Jahr 2021 mit einem deutlichen Schritt im Umfang von zehn Milliarden Euro beginnen.” (Rn. 2436–2438). Schließlich heißt es noch: “Dadurch werden rund 90 Prozent aller Zahler des Solidaritätszuschlags durch eine Freigrenze (mit Gleitzone) vollständig vom Solidaritätszuschlag entlastet.” (Rn. 2438–2439).
Ein weiterer Hoffnungsschimmer besteht insoweit, als ausgeführt wird: “Wir werden die Steuerbelastung der Bürger nicht erhöhen.” (Rn. 2441). Es wird sodann darauf hingewiesen, dass alle zwei Jahre ein Bericht “zur Entwicklung der kalten Progression” vorgelegt werden soll (Rn. 2442). Abschließend wird angekündigt, dass der Pauschbetrag nach § 33b EStG, der seit 1975 (!!!) nicht erhöht wurde, nunmehr angepasst werden soll. Damit erschöpfen sich aber schon die steuerlichen Brosamen für die deutschen Steuerzahler, die mit Arbeits- und Steuerkraft die staatlichen Haushalte stützen.
Die im Wahlkampf immer wieder von fast allen Politikern angekündigten “Steuererleichterungen für geringe und mittlere Einkommen” bleiben jetzt unerwähnt. Heute verhallen die Rufe nach Steuersenkung im Nirwana. Der steuerpolitische Stillstand kann das Wirtschaftswachstum gefährden, wenn die Abgabequoten stetig steigen.
Verfassungsrechtlich bedenklich ist vor allem, dass die Ermittlung des Existenzminimums weiterhin ohne ausreichende Berücksichtigung des Wohnbedarfs vorgenommen werden soll. Bekanntlich sind die Mieten vor allem in den Ballungsräumen massiv gestiegen. Da die Bevölkerung inzwischen überwiegend in Städten und Ballungsräumen lebt und arbeitet, wird der Grundfreibetrag in Höhe von 9 000 Euro vielfach kaum den Wohnbedarf decken, zumal dieser nicht wie im Sozialhilferecht regional ausgerichtet wird. Die Ausgaben für das Wohnen betragen jedoch heute in den meisten Regionen ca. 32 % der existenznotwendigen Ausgaben, die von der Einkommensbesteuerung nach Verfassungsrecht zu verschonen sind.
Der Einkommensteuertarif müsste realitätsnah gestaltet werden. In einem ersten Schritt sollten der Grundfreibetrag, der Eingangssteuersatz und der Bereich nach § 32a Abs. 1 S. 2 Nr. 2 EStG (sofort von 14 000 Euro auf 20 000 Euro) angehoben werden.
Eine Nichtentlastung, wie sie im Koalitionsvertrag vereinbart ist, ist bei den realen Steuereinnahmen abzulehnen. Ansonsten entsteht der Verdacht, dass die heimlichen Steuererhöhungen weitergewollt sind und der Vorbereitung einer Transferunion (hierzu Fuest, HB v. 7.2.2018, 48) geschuldet sind. Eine Überbesteuerung der erwerbstätigen Steuerzahler widerspricht dem Grundsatz einer Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit.
Eine neue Bundesregierung und das neue Parlament sollten sich dazu durchringen, ein Konzept für eine neue Tarifarchitektur zu entwickeln. Die Parlamentarier sollten vordringlich die inzwischen realitätsferne Struktur erneuern. Dabei sollten sich die Entscheidungsträger bewusst sein, dass sie als Volksvertreter zu agieren haben. Schaden sollte vom Volke abgewendet werden.
Die Tarifstruktur wurde seit 1990 nicht “überarbeitet”. Sie bedarf dringend der Erneuerung (vgl. auch Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 8, Rn. 800 ff.). Insbesondere die in § 32a EStG verankerten Zonengrenzen entsprechen nicht mehr einer ausgewogenen Struktur, zumal sich durch Preissteigerungen und Einkommenserhöhungen die Schichtung der Steuerzahler merklich verändert hat.
Höchster Korrekturbedarf besteht bei der Festlegung des Grundfreibetrags. Das verfassungsrechtliche Gebot, einen Einkommensbetrag mindestens in Höhe des sozialhilferechtlichen Existenzminimums von der Einkommensteuer zu verschonen, wird in weiten Regionen Deutschlands derzeit nicht mehr ausreichend beachtet. Das Preisgefälle zwischen Stadt und Land hat sich so stark vergrößert, dass der derzeitige Grundfreibetrag eine Besteuerung existenznotwendiger Einkommensteile nicht verhindert. Dies gilt vor allem für die Mietausgaben (Kaltmiete von 4,50 Euro bis 16 Euro).
Weiterhin ist es nicht mehr vertretbar, dass der Eingangssteuersatz seit 2009 unverändert bei 14 % verharrt und der Spitzensteuersatz früher einsetzt als im Jahre 2003. Die Preisentwicklungen seit 2003 werden de facto ignoriert. Das Ziel einer Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ist zum Teil dem Ziel “Maximierung der Einnahmen” aus Lohn/Einkommensteuer geopfert worden. Transparenz des Einkommensteuertarifs wird leider auch nicht angestrebt.
Der Gesetzgeber sollte nicht warten, bis der Steuerverdruss die entstehende Staatsverdrossenheit, wie sie sich bei der letzten Bundestagswahl gezeigt hat, noch verstärkt. Auch wenn die Entscheidungsträger selbst wohl nie in der Nähe des Grundfreibetrags oder des Eingangssteuersatzes angesiedelt waren, sollten sie die Situation der “geringen” und “mittleren” Einkommensbezieher berücksichtigen. Der Koalitionsvertrag bedarf hinsichtlich der Einkommensbesteuerung dringend der Ergänzung.
Prof. Dr. Dieter Dziadkowski war Universitätsprofessor für Betriebswirtschaftslehre, insbes. Betriebswirtschaftliche Steuerlehre und Wirtschaftsprüfung, sowie u. a. Mitglied der Einkommensteuer (Bareis-)Kommission und Vorsitzender der Vereinigung zur wissenschaftlichen Pflege des Umsatzsteuerrechts.