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CB-Standpunkte
18.11.2015
CB-Standpunkte
Prof. Dr. Bernd Irlenbusch: VW und der Abgasskandal: Verzerrungen im moralischen Verhalten verringern

“By 2018, the Volkswagen Group is aiming to be the world’s most environmentally compatible automaker. In order to achieve this goal, we have set ourselves some ambitious targets, particularly with regard to environmental protection.” So die Ankündigung zu Beginn des Umweltkapitels aus dem VW-Nachhaltigkeitsbericht 2014. Im Lichte dieser Ankündigung stellen sich durch die Enthüllungen zum Dieselabgasskandal einige schwierige Fragen. Sind die Nachhaltigkeitsbemühungen von VW etwa nur Feigenblätter, um gesetzliche und moralische Grenzübertretungen zu verdecken? Oder sind die Manipulationen bei Abgasuntersuchungen das Werk einzelner Organisationsmitglieder, die die wahren Ziele von VW unterlaufen, wie es USA-Chef Michael Horn vor einem Ausschuss des Repräsentantenhauses vermutete? Beide Fragen sollten von VW überzeugend beantwortet werden.

Die jüngere Forschung zeigt, dass eine Bejahung der zweiten Frage wahrscheinlich zu kurz greift. Im vorliegenden Fall mussten mehrere Mitarbeiter und Manager von der Manipulation gewusst haben. Wie kann es da sein, dass niemand im Unternehmen aufsteht und sagt: „Das können wir so nicht machen!“? Gründe könnten in jüngst erforschten Verzerrungen im moralischen Verhalten von Organisationsmitgliedern liegen. Eine dieser Verzerrungen ist das Bewegen auf einer moralisch schiefen Ebene. Hier erfolgt kein abrupter Sprung in einen unmoralischen Abgrund, sondern die moralischen Grenzübertretungen erfolgen in kleinen Schritten. Jeder einzelne Schritt macht keinen großen Unterschied, aber in Summe ist die moralische Grenzüberschreitung groß. Das Problem ist, dass man solche kleinen Schritte bei sich selbst oder bei anderen kaum wahrnimmt und sie noch gerade so rechtfertigen kann. Im vorliegenden Fall ist das Herstellen günstiger Bedingungen für die Abgaswerte bei der Zulassung von neuen VW-Kraftfahrzeugen ein offenes Geheimnis. Beispiele hierfür sind das Aufziehen besonderer Reifen oder das Einfüllen von speziellen Schmiermitteln in den Motor. So können Abgaswerte attestiert werden, die im Normalbetrieb nicht erreicht werden. Da ist das Verwenden von Software zur Manipulation der Abgaswerte in gewisser Weise nur ein kleinerer weiterer Schritt. Eine andere Verzerrung im moralischen Verhalten wird als moralische Lizenz bezeichnet. Ist man überzeugt, dass man besonders moralisch handelt, so zeigt sich bei Menschen eine Tendenz zur Annahme, sich auch einmal etwas herausnehmen dürfen. Es ist naheliegend, dass diese Verzerrung auch für Mitglieder einer Unternehmensorganisation gilt. VW hat sich selbst immer das Bild des sehr sauberen Autoherstellers gegeben. Dies könnte im Lichte der genannten Verzerrung von manchen Mitarbeitern und Managern bewusst oder unbewusst als Lizenz wahrgenommen worden sein, sich in dieser Hinsicht auch einmal etwas erlauben zu dürfen. Diese und andere systematische Verzerrungen im moralischen Verhalten, wie z. B. Konformität, Gehorsam in Hierarchien oder Gruppendruck liegen in der Natur des Menschen und zwingen zu Demut hinsichtlich unseres moralischen Vermögens. Sie machen deutlich, dass Verfehlungen in Organisationen nicht ausschließlich durch Verweise auf einzelne, sich fehlverhaltende Mitglieder erklärt werden können. Unternehmen und deren Compliance-Abteilungen müssen gemeinsam mit der Wissenschaft innovative Wege finden, wie Bedingungen geschaffen werden können, dass solche systematischen Verzerrungen im moralischen Verhalten von Organisationsmitgliedern verringert werden.

Um in Bezug auf die erste Frage deutlich zu machen, dass die Nachhaltigkeitsbemühungen nicht als Feigenblätter gedacht sind, sollte VW jetzt  tatkräftig Schritte nach vorne gehen. Weithin kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich die Automobilindustrie sträubt, ihre hohen Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen zu Verbrennungstechnologien abzuschreiben und auf zukunftsweisende Hybrid- und Elektromodelle zu setzen. Stattdessen scheint sie auf monetäre Anreize aus der Politik zu warten. Hier wären mutige Schritte von VW als Vorreiter hin zu einer breiten, preiswerten Einführung der alternativen Elektrotechnologie ein sichtbares Zeichen. So kann Vertrauen in eine Geschäftsstrategie, die Nachhaltigkeit im Blick hat, zurückgewonnen werden. VW würde dann – das eingangs erwähnte selbst gesteckte Ziel noch erreichen können, der weltweit umweltverträglichste Autohersteller zu sein – vielleicht nicht 2018, aber doch kurze Zeit später. Ein solcher Schritt stände zudem auch ganz in der Tradition von Volkswagen und wäre möglicherweise ja der Beginn einer neuen Legende: dem Elektrowagen für jedermann.


Prof. Dr. Bernd Irlenbusch
ist Inhaber des Lehrstuhls für Corporate Development and Business Ethics an der Universität zu Köln. Zuvor lehrte er Management an der London School of Economics. Er ist Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Berufsverbands der Compliance Manager e.V. (BCM).

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